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Frieden in Europa

Die Europäische Union ist ein Friedensprojekt. Mit ihrer Gründung begann die bislang längste Phase ohne Krieg in der Geschichte ihrer Mitglieder. 2011 gab es für die EU dafür sogar den Friedensnobelpreis, weil es auf einem Kontinent mit derart blutiger Geschichte eine preiswürdige Leistung ist, wenn die Mitglieder einer Organisation ihre Interessenskonflikte nicht mehr mit Gewalt austragen, sondern eine Zivilmacht schaffen, in der permanent ein Ausgleich zwischen widerstreitenden Interessen institutionell vermittelt wird. Aber die glückliche Geschichte vom Frieden schaffenden europäischen Integrationsprojekt ist nicht vollkommen, denn sie wirkt nur nach innen. Das hat zu Kritik an der Wahl der Preisträgerin geführt, denn wohin hat die EU denn Frieden gebracht? Dieser Frage lässt sich rechtlich entgegnen, dass die souveränen nationalstaatlichen Mitglieder der EU kein Mandat erteilt haben, Konflikte militärisch zu lösen. Aber es bleibt die moralische Verantwortung, mehr zu tun als zuzusehen, wenn humanitäre Werte direkt vor der Haustür massiv verletzt werden wie nach dem Zerfall Jugoslawiens, als nicht alle Teile des europäischen Kontinents gleichzeitig die Voraussetzungen zur Aufnahme in die EU erfüllten und auf dem Weg dahin barbarische Gemetzel in Europa geschahen und niemand die Verantwortlichen daran hinderte, weil es der Zivilmacht an Stärke und Willen fehlte.

Versagen in Ex-Jugoslawien

Am 11. Juli 1995 begann das Massaker von Srebrenica. In weniger als zwei Wochen wurden dort mehr als 8000 männliche bosnische Muslime systematisch aufgrund ihrer Ethnie und Religionszugehörigkeit getötet. Am 16. April 1993 hatte der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen durch die Resolution 819 Srebrenica zur „sicheren“ UN-Schutzzone erklärt. Dieser Status und die Anwesenheit von niederländischen UN-Blauhelm-Soldaten verhinderten jedoch die massenhafte Tötung wehrloser Zivilisten durch bosnische Serben unter Führung des Generals Ratko Mladić ebenso wenig, wie alle anderen Gräueltaten und Kriegsverbrechen auf beiden Seiten vor den Augen der Welt und in der unmittelbaren Nachbarschaft der Friedensgemeinschaft EU gestoppt oder verhindert wurden.

Die Niederlande haben sich intensiv mit ihrer Schuld in Srebrenica auseinandergesetzt. Es ist zu bezweifeln, dass das Massaker von einem Blauhelm-Kontingent aus anderen Nationalitäten verhindert worden wäre. Insofern hatten sie Pech, dass gerade sie dort stationiert waren. Andere Staaten schickten gar nicht erst Soldaten für den UN-Einsatz. Für die Kriegsverbrecher erschien angesichts der Schwächen von UN und EU das Risiko gering, für ihre menschenverachtenden Taten belangt zu werden. Umso bemerkenswerter sind die Prozesse des Internationalen Strafgerichtshofs in Den Haag, wo sich zumindest einige Täter verantworten mussten.

Lehren aus Srebrenica

Die EU zog aus dem Versagen im Jugoslawienkrieg bereits in den 1990er Jahren den Schluss, eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik weiterzuentwickeln und sich stärker um den Aufbau von Kapazitäten zur Krisenprävention zu kümmern. Ihre Ressourcen sind aber nach wie vor sehr beschränkt und die Hürden für ihren Einsatz hoch.

26 Jahre nach dem Versagen in Srebrenica sind die Aussichten eher getrübt, dass solche Verbrechen gegen die Menschlichkeit in Zukunft verhindert oder zumindest angemessen bestraft würden. Multilaterale Institutionen wie die UN und der Internationale Strafgerichtshof (ICC) sind geschwächt, Staaten ziehen sich aus entsprechenden Konventionen zurück oder treten gar nicht erst bei – auch das ist eine Lehre aus der erfolgreichen Arbeit des ICC, denn insbesondere die mächtigen Staaten akzeptieren es grundsätzlich nicht, dass ihre Soldaten vor ein internationales Gericht gestellt werden können. Regionale Konflikte und Stellvertreterkriege haben zugenommen, ebenso wie die globale Vernetzung und das Wissen über humanitäre Katastrophen und ihre Ursachen. Srebrenica war auch deswegen ein Schock, weil es in Europa geschah und täglich im Fernsehen Bilder vom Jugoslawienkrieg schmerzlich vor Augen führten, dass niemand etwas unternahm, um Menschen zu schützen und diesen Krieg zu beenden. Heute gibt es keine entfernten Konflikte mehr. Alles passiert vor unserer Haustür im globalen Dorf.

Noch immer sucht die EU nach ihrer Rolle in der Welt. Interne Interessensunterschiede und externe Einflussnahme verhindern gemeinsame Positionen. Die Welt ist multipolarer geworden, ideologische Unterschiede verschärfen sich und im Ergebnis werden der globale Schutz von Menschenrechten und die Verhinderung von Kriegsverbrechen schwieriger. Die Erinnerung an Srebrenica sollte uns lehren, dass Frieden keine Selbstverständlichkeit ist, auch dort nicht, wo man sich daran gewöhnt hat, weil es über einen langen Zeitraum keine kriegerischen Auseinandersetzungen gegeben hat. Errungenschaften wie internationale Abkommen und multilaterale Institutionen sind keine Garanten dafür, dass es in Zukunft keine barbarischen Akte mehr gibt, aber sie sind wichtig und müssen geschützt werden. Not tut aber auch der Aufbau von Hard Power, um dem Kalkül von Kriegsverbrechern zu begegnen, dass sie von einer reinen Zivilmacht nichts zu befürchten haben. Das ist in Zeiten von anderen großen Aufgaben wie dem Klimawandel und der wirtschaftlichen Erholung nach der Pandemie nicht populär. Es ist aber nicht weniger wichtig, um universale Werte zu schützen.

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