24.11.2021, Berlin: Christian Lindner, Parteivorsitzender der FDP (l-r), Olaf Scholz, SPD-Kanzlerkandidat und geschäftsführender Bundesfinanzminister, Annalena Baerbock, Bundesvorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen und Robert Habeck, Bundesvorsitzender von Bündnis 90/Die Grünen stellen auf einer Pressekonferenz den gemeinsamen Koalitionsvertrag der Ampel-Parteien von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP für die künftige Bundesregierung vor. (dpa)
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Die Bundesrepublik weigerte sich jahrzehntelang, sich als „Einwanderungsland“ zu definieren, obwohl sie faktisch schon lange Zeit eines war. Diese Erkenntnisverweigerung aus den 1980er Jahren unter dem Motto „Die Bundesrepublik ist kein Einwanderungsland“ hatte bis in die Gegenwart geradezu chronischen Charakter. Manche Wissenschaftler, etwa der Gründer des Osnabrücker Instituts für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien (IMIS), Klaus J. Bade, machten schon vor fast einem halben Jahrhundert darauf aufmerksam, dass sich die sogenannte „Gastarbeiterfrage“ seit den späten 1970er Jahren immer deutlicher in eine echte „Einwanderungsfrage“ verwandelte. Allerdings blieb die Politik stur. Dies zeigte sich unter anderem an der mangelnden bundespolitischen Einsicht, die Realität der kulturellen Vielfalt, die Notwendigkeit von aktiver Migrationspolitik sowie von „präventiver“, „begleitender“, bald auch „nachholender Integrationspolitik“ zu akzeptieren. Auch Bades Forderungen nach einer interkulturellen Öffnung des öffentlichen Dienstes sowie nach Monitoringsystemen zur Beobachtung von Integrationsprozessen stießen sowohl in der Öffentlichkeit als auch in der Politik lange Zeit auf mehr oder minder taube Ohren.

Von Good-Practice-Beispielen profitieren

Die genannte Erkenntnisverweigerung, gepaart mit der „Befremdung“ des „Anderen“, bestimmte und unterschied zu lange die deutsche Diskussion von der in klassischen Einwanderungsstaaten wie USA, Großbritannien, Kanada oder Australien. Moderne Einwanderungsländer nutzen bewusst Vielfalt und Verschiedenheit vor Ort als Chance. In den regelmäßig wiederkehrenden Integrationsdebatten in Deutschland fällt dagegen auf, dass wir uns ewig im Kreis drehen. Bringt uns dies voran? Das Rad muss nicht neu erfunden werden. Es gibt genügend Good-Practice-Beispiele, wie Einwanderungspolitik und Integration, also Teilhabe und Eingliederung, gelingen können. Und wie aus ehemaligen Einwanderern gleichberechtigte Bürger werden können. Auf kommunaler Ebene sind viele deutsche Landkreise, Städte und Gemeinden mit ihren pragmatischen Lösungen in der Integrationspolitik dem Bund weit voraus.

„Ein modernes Einwanderungsland“

Auf Bundesebene hingegen kam es allen Anstößen und Forderungen zum Trotz, von Schäubles Reform des Ausländerrechts (1990) einmal abgesehen, im Grunde erst mit und seit der rot-grünen Koalition (1998 bis 2005) zu richtungweisenden legislativen Innovationen – von der Reform des Staatsangehörigkeitsrechts (2000) bis zum Zuwanderungsgesetz (2005). Die folgenden Regierungskoalitionen bauten zwar auf diesen „neuen“ Fundamenten auf, ein nennenswerter Wandel geschweige denn eine moderne Einwanderungspolitik ließ aber immer noch auf sich warten.

Ambitionierter Koalitionsvertrag

Die neue Koalitionsvereinbarung der künftigen Bundesregierung bringt jetzt neuen Schwung in diese Diskussion. SPD, Grüne und FDP sehen die gegenwärtigen Bestimmungen in Bezug auf Migration und Integration als längst überholt, wollen „einen Neuanfang in der Migrations- und Integrationspolitik gestalten“, betonen die „große Vielfalt“ im Land und sprechen von einer „vielfältigen Einwanderungsgesellschaft“. Erstmals bezeichnen sie Deutschland als „modernes Einwanderungsland“ und sprechen von einem nötigen „Paradigmenwechsel“, der folgendermaßen aussehen soll: Das Drei-Parteien-Bündnis möchte mit einer „aktiven und ordnenden Politik Migration vorausschauend und realistisch gestalten“. Man werde „rechtswidrige Einwanderung reduzieren“ und „reguläre Migration ermöglichen“. Dabei bekennen sich die Koalitionsparteien zu ihrer „humanitären Verantwortung“ und den internationalen Verpflichtungen und Gesetzen, „um Geflüchtete zu schützen und Fluchtursachen zu bekämpfen“.

Teilhabegesetz und Punktesystem

Die Ampelkoalition setzt sich zudem für ein Partizipationsgesetz ein, das dafür sorgen soll, dass Menschen mit Einwanderungsbiographie stärker an politischen Entscheidungen mitwirken können. Die ehemaligen „Ausländerbeiräte“ und späteren „Integrationsräte“ sollen bald womöglich in „Partizipationsräte“ umbenannt werden. Auch an die interkulturelle Öffnung in Bundesbehörden und Unternehmen mit Beteiligung des Bundes haben die Bündnispartner gedacht: So sollen sogenannte Diversity-Strategien für mehr Vielfalt und Verschiedenheit in den Behörden sorgen. Ein Partizipationsgesetz war in Deutschland längst fällig. Denn die beste Integrationspolitik ist Teilhabe. Niemand sollte aufgrund seines Namens, seiner Herkunft, seiner politischen Einstellung oder seiner Haut- oder Haarfarbe auf dem Bildungs-, Arbeits- und Wohnungsmarkt ausgeschlossen werden. Zur Gewinnung von qualifizierten Fachkräften ist im Übrigen die Einführung eines Punktesystems geplant. Behörden in Deutschland sollen zudem Bildungs- und Berufsabschlüsse aus dem Ausland einfacher anerkennen.

Wie modern wird das „moderne Staatsangehörigkeitsrecht“?

Ferner möchten die drei Parteien ein modernes Staatsangehörigkeitsrecht schaffen: Dafür soll es nicht nur die Möglichkeit der Mehrfachstaatsangehörigkeit geben, sondern auch die Hürden zum Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit sollen herabgesenkt werden. Eine Einbürgerung ist demnach bereits nach fünf Jahren erreichbar. Bei „besonderen Integrationsleistungen“ soll der Erwerb des deutschen Passes schon nach drei Jahren möglich sein. Bisher ist das in der Regel erst nach acht Jahren in Deutschland möglich. Darüber hinaus dürfen in Deutschland geborene Kinder, deren Eltern eine ausländische Staatsangehörigkeit besitzen, mit ihrer Geburt deutsche Staatsbürger werden, falls „ein Elternteil seit fünf Jahren einen rechtmäßigen gewöhnlichen Aufenthalt im Inland“ hat. Allerdings könnte folgender Satz in der Koalitionsvereinbarung für Diskussionen sorgen: „Für zukünftige Generationen prüfen wir, wie sich ausländische Staatsbürgerschaften nicht über Generationen vererben.“ Ist hier etwa das Prinzip des „Generationenschnitts“ gemeint? Dieses schon im Wahlkampf 2017 von der SPD favorisierte Modell stammt vom Sachverständigenrat Deutscher Stiftungen für Integration und Migration (SVR). Beim sogenannten „Generationenschnitt” sollen in Deutschland geborene Kinder von Einwanderern zunächst den Doppelpass erhalten. Diese (Angehörigen der zweiten Generation) wiederum sollen ihren Kindern (dritte Generation) jedoch die Staatsangehörigkeit ihrer Großeltern nicht mehr automatisch, sondern nur noch auf Antrag weitergeben dürfen. In der vierten Generation dagegen soll gar keine Weitergabe der doppelten Staatsbürgerschaft bzw. der Staatsangehörigkeit der Eltern und Großeltern mehr möglich sein. Mit einem solchen „Generationenschnitt” soll verhindert werden, dass Menschen die Staatsangehörigkeit eines Landes besitzen, das ihre Familien schon vor Generationen verlassen haben. Ob dieses diskriminierende Modell, das stark nach Assimilationszwang riecht, auch für US-Amerikaner, Kanadier, Schotten oder EU-Bürger gelten oder nur Menschen aus bestimmten Staaten betreffen wird, bleibt abzuwarten.

Stärkung eines „deutschen Islams“?

Mit Blick auf das muslimische Leben und einen „deutschen Islam“ möchte die Ampelkoalition die „Ausbildungsprogramme für Imaminnen und Imame an deutschen Universitäten“ in Zusammenarbeit mit den Ländern ausweiten und vor allem in Deutschland beheimatete, progressive Organisationen sowie Jugendvereine weiterentwickeln. Damit dürften die mitgliederstarken und seit Jahrzehnten etablierten muslimischen Religionsgemeinschaften in Deutschland wohl weniger gemeint sein. Außerdem betonen die Koalitionäre: „Der zunehmenden Bedrohung von Musliminnen und Muslimen und ihren Einrichtungen begegnen wir durch umfassenden Schutz, Prävention und bessere Unterstützung der Betroffenen“.

Migration und Integration aus dem Kompetenzbereich des Innenministeriums lösen

Wünschenswert wäre gewesen, die Ampelkoalition hätte ein Integrationsministerium eingerichtet. Oder alternativ: SPD, Grüne und FDP hätten die zentrale Zuständigkeit für Fragen von Migrations- und Integrationspolitik, deren Umsetzung ohnehin Ländersache ist, dem Bundesministerium für Arbeit und Soziales übertragen können, um sie aus dem im Bundesministerium des Inneren vorherrschenden Denken in Kategorien von Sicherheitspolitik und Gefahrenabwehr zu befreien. Die „moderne Einwanderungspolitik“, von der die Ampelkoalition spricht, hätte damit ihre Modernität demonstrieren können.

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