Palästinensische Autonomiegebiete, Gaza-Stadt: Nach Luftangriffen sind Explosionen in Gaza-Stadt zu sehen. Symbolbild. 11.05.2021. DPA. (dpa)
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Was sich dieser Tage in und um die heilige Al-Aqsa Moschee in der Altstadt von Jerusalem abspielt, lässt Kommentatoren nach passenden Worten suchen: Wie sollte man bewaffnete Übergriffe auf friedvoll betende Bürgerinnen und Bürger auch nur annähernd treffend beschreiben?

Bevor wir jedoch auf die konkreten Ereignisse eingehen, hier ein genereller Kommentar: Ein Zusammenleben zwischen Völkern verlangt es, mit den Stichwörtern Selbstbestimmung und Solidarität zu leben. Das Existenzrecht eines Staates bedeutet nicht, dass man anderen Staaten dieses Recht verwehren kann. Niemand bestreitet dem Volk und dem Staat Israels das Existenzrecht. Aber es ist an der Zeit, auch dem Volk Palästinas endlich das Existenzrecht einzuräumen, und zwar nicht nur bei Sonntagsansprachen von Politikern, sondern völkerrechtlich eindeutig abgesichert.

Tote und Verletzte – warum nur?

Der unbestreitbar von israelischen Sicherheitskräften ausgelöste Konflikt hinterließ bisher mindestens 500 Verletzte und im Gaza-Streifen, wo angeblich nur militärische Einrichtungen angegriffen werden sollten, über 25 Getötete, darunter schockierenderweise neun Kinder und auch Zivilisten. Aber auch über zwei Dutzend Polizeibeamte wurden in Ost-Jerusalem verletzt.

Letzten Montag eskalierte die Gewalt, aber bereits seit Tagen wurden betende Menschen von Sicherheitskräften bedrängt. Kurz nach dem Freitagsgebet brach Chaos aus, als unschuldige Gläubige angegriffen und belästigt wurden. Als Gegenwehr verbarrikadierten protestierende Bürger in den Folgetagen die Tore zum Moschee-Gelände, welches für Palästinenser und Juden gleichermaßen als heiliger Ort gilt. Dann, am Montag, setzte die Polizei Tränengas, Gummigeschosse und Blendgranaten ein. Es stimmt, dass auch Gegenstände und Steine in Richtung der Polizisten flogen, aber Gewalt erzeugt leider oftmals auch Gegengewalt – die Sicherheitskräfte waren nämlich auch in die Moschee eingedrungen und setzten dort Gummipatronen gegen friedvolle Menschen ein.

Es brodelte schon länger in der Stadt

Über die vergangenen Wochen hinweg spürten Beobachter vor Ort die wachsende Unruhe in der Stadt. Die Reporter der englischen Tageszeitung The Sun nahmen kein Blatt vor den Mund und titelten gleich am 10. Mai: „Heilige Hölle, Unruhen in Jerusalem – 500 Palästinenser mit Gummigeschossen und Blendgranaten niedergemäht, als israelische Polizisten Al-Aqsa Moschee stürmen“ (Übersetzung d. Verf.) Die palästinensische Seite hatte sich vermehrt bei den israelischen Behörden darüber beschwert, dass es gerade im heiligen Monat Ramadan Zugangsbeschränkungen für Ost-Jerusalem gibt, vor allem am Damaskus-Tor, wo sich gerade im Fastenmonat Ramadan gerne viele Bürgerinnen und Bürger friedlich versammeln. Diese Übergriffe und Eingriffe in Bürgerrechte sind überhaupt nur möglich, da Israel seit 1980 die gesamte Stadt Jerusalem für sich beansprucht, ein höchst bedenklicher Anspruch, da Ost-Jerusalem eigentlich auf palästinensischer Seite liegt. Und die Al-Aqsa Moschee steht nicht zum ersten Mal im Mittelpunkt von Auseinandersetzungen; „Unruhe am heiligen Ort“ schrieb die Frankfurter Allgemeine Zeitung bereits am 14. September 2015.

Das Viertel im Blickpunkt heißt Scheich Dscharrah, und es geht um rund 30 Wohnungen, die nun per Zwangsräumung an israelische Siedler überstellt werden sollen, und das, obwohl ihnen vom Prinzip her Bleiberechte zustehen.

Es ist das alte Problem, dass Israel versucht, mittels neuen Siedlern und sogar dem Bau von ganzen neuen Siedlungen die palästinensischen Menschen immer weiter zu vertreiben, und das auf einem Territorium, das eigentlich ihr eigenes ist, nämlich auf dem Westjordanland.

Lassen wir die Vorkommnisse rund um die Al-Aqsa Moschee und im Gaza-Streifen kurz beiseite und widmen wir uns einem verknüpften Thema.

Deutsche Kritik am Staat Israel – immer noch tabu?

Als im Zuge der Studentenproteste der späten 60er Jahre die westdeutsche Babyboomer-Generation in ihrer Gesamtheit aus ihrem Dornröschenschlaf erwachte, begann man die Welt mit offeneren Augen zu sehen. In den 70er und 80er Jahren stellte sich ein neues Selbstbewusstsein ein – allmählich wollte man nicht mehr nur mit den immensen Schuldgefühlen leben, die einem die Eltern ungewollt in die DNA geschrieben hatten.

Aber auf einmal schaute man weniger blauäugig in alle Ecken der Welt. Somit wurde einem klar, dass nach vielen Jahrzehnten des Nichtkritisierens des Staates Israel selbst eine stolze Nation, die den Holocaust erlitt, vielleicht politische Fehler begeht.

76 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges und in Erinnerung des unvorstellbaren Grauens und Leids, das dem Judentum durch Hitlers Barbarei widerfuhr, sollte heute eigentlich der Zeitpunkt gekommen sein, um ehrlicher und offener über Israels Politikgestaltung zu sprechen. Die Vorkommnisse rund um die Al-Aqsa Moschee sollten der lange überfällige Auslöser sein.

Warum gibt es Widerstand, Palästina anzuerkennen?

Erneute Zeitreise: Ein themenspezifischer Sonderausschuss der Vereinten Nationen hatte im Zuge der 1947er-Vollversammlung vorgeschlagen, das Britische Mandat solle durch einen unabhängigen arabischen Staat, einen unabhängigen jüdischen Staat und die Stadt Jerusalem unter internationaler Treuhänderschaft ersetzt werden. Was auf dem Papier einfach aussah, war in Wirklichkeit jedoch nicht durchsetzbar. 1948 kam es zum folgenschweren Arabisch-Israelischen Krieg. Zeitweilig waren das Westjordanland und Ost-Jerusalem unter jordanischer Kontrolle und der Gaza-Streifen unter ägyptischer Hoheit. Die Vereinten Nationen nehmen an, dass im Laufe der Zeit 700000 Palästinenser entweder flüchteten oder vertrieben wurden.

Fakt ist auch, dass nur der Staat Israel 1949 Mitglied der Vereinten Nationen wurde. Nach der Ausrufung eines Staates Palästina im Jahre 1988 aus dem Exil haben aber mittlerweile 138 Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen diesen Staat Palästina anerkannt; seit 2012 besitzt er Beobachterstatus bei den Vereinten Nationen.

Also vom Anfang kurz nach dem Zweiten Weltkrieg bis zum heutigen Tage 2021 von Gleichbehandlung keine Spur. Endlich regt sich Widerstand auch in Europa.

Schottlands Erste Ministerin: klare Kante

Noch bevor die Situation am Montag weiter eskalierte und wie u.a. Daily Sabah berichtete, wandte sich Schottlands Regierungschefin Nicola Sturgeon am Wochenende an die Öffentlichkeit und sagte, Israel müsse die internationale Gemeinschaft anhören und die Angriffe auf die drittheiligste Städte im Islam sowie die illegalen Zwangsräumungen im Stadtteil Scheich Dscharrah sofort stoppen. Weiter sagte die Politikerin, die gerade ein überragendes Wahlergebnis in Schottland eingefahren hatte, einen Platz des Glaubens anzugreifen, sei ohnehin verwerflich, eine Moschee im Ramadan anzugreifen, sei aber ganz und gar unvertretbar.

Türkischer Gesetzgeber: eindeutige Stellungnahme

Auch alle im türkischen Parlament vertretenen politischen Parteien scheuten sich nicht, deutliche Worte zu finden. Wie in den türkischen Medien vor Ort ausführlich berichtet wurde, beschlossen (…) als die Große Nationalversammlung der Türkei verurteilen wir eindringlich diese Verfolgung und Ungesetzlichkeit (…). Die Parteien erklärten ihre Unterstützung für Aufrufe der Vereinten Nationen, Israel solle seine Aktivitäten in Jerusalem einstellen. Sie forderten auch andere UNO-Mitglieder auf, sich diesem Aufruf anzuschließen.

Dann wurde festgehalten, dass das Parlament stets auf Israels‘ aggressives Vorgehen reagieren wird, und erwähnt, dass der Status von Jerusalem und des Tempelberges erhalten bleiben müsse und Palästinenser legitime Rechte hätten. Palästinensische Menschen hätten einen Anspruch auf Freiheit, Recht und Unabhängigkeit.

Existenzrecht keine Einbahnstraße

Wir sprachen es im ersten Abschnitt dieses Beitrages bereits an: Existenzrecht ist keine Einbahnstraße. Und die Zeit der Glaubenskriege ist lange vorbei. Friedvolle Bürgerinnen und Bürger bei der Ausübung ihres Rechtes auf religiöse Selbstbestimmung brutal anzugreifen, birgt das Risiko in sich, das Rad der Geschichte zurückzudrehen. Legitime Bewohner aus ihren Häusern zu vertreiben, ist eine Form von Freiheitsentzug – der Schutz des Wohnraumes ist unantastbar. Neue Städte auf Territorien zu errichten, welche einem Staat nicht gehören, kommt einer Invasion gleich.

Ein stolzes Volk wie das des Staates Israel sollte nur zu gut aus eigener leidvoller Erfahrung wissen, wie wichtig Frieden, Freiheit und die Achtung der Menschenrechte sind.

Könnte in diesem Kontext Berlin also doch noch deutlicher Stellung beziehen? Sollte Berlin vielleicht im Rahmen einer UN-Mission die Vermittlerrolle übernehmen?

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