17.11.2023, Berlin: Die Flaggen von Deutschland und Türkiye wehen anlässlich des Besuchs des türkischen Präsidenten Erdogan in Deutschland vor dem Schloss Bellevue. / Photo: DPA (dpa)
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Der türkische Präsident Erdoğan besucht nach etwa drei Jahren erstmals wieder Deutschland. Die Besuche der Staatsoberhäupter Deutschlands und Türkiye sind immer von großer Bedeutung, da zwischen beiden Ländern tiefe und umfassende Verbindungen bestehen. Bei jedem bilateralen Treffen gibt es unveränderte Themen: Türken, die in Deutschland leben, Aktivitäten der PKK und ihrer Ableger in Deutschland, Auslieferung von FETÖ-Mitgliedern, EU-Mitgliedschaft von Türkiye, das Zollunion-Abkommen und die Situation der Migranten.

Allerdings steht bei Erdoğans aktuellem Besuch neben all diesen Themen noch ein viel heikleres auf der Agenda: der Israel-Palästina-Krieg. Die beiden Staatschefs haben in dieser Angelegenheit sehr unterschiedliche Ansichten und Politiken. Erdoğan fordert Israel vehement auf, die Angriffe auf Palästina sofort zu beenden und die Schaffung eines friedlichen Umfelds in der Welt anzustreben. Scholz hingegen argumentiert, Israel sei trotz der täglichen Todesfälle von Hunderten Kindern in Gaza im Recht.

Auch in Bezug auf den Russland-Ukraine-Krieg gab es Meinungsverschiedenheiten zwischen den beiden Spitzenpolitikern, und im Laufe der Zeit wurde deutlich, dass Erdoğans Haltung zum Konflikt richtig war, was von der ganzen Welt anerkannt wurde. Während sich der europäische Chef, einschließlich Scholz, für die Abkehr von allen Beziehungen zu Russland, politische Sanktionen und sogar Verbote von Kunst- und Sportveranstaltungen aussprachen, gab Erdoğan der Welt eine Lektion in Diplomatie und übernahm eine Vermittlerrolle zwischen Russland und der Ukraine. Die Welt entging einer Lebensmittelkrise dank Erdoğans diplomatischem Geschick.

Erdoğan strebt nun auch in Palästina eine Zwei-Staaten-Lösung an und argumentiert, dies sei der einzige Weg zu einer dauerhaften Friedenssicherung. Doch was steckt hinter den Meinungsverschiedenheiten zwischen den beiden Politikern?

Scholz: „Deutschland steht fest an der Seite Israels.“

Olaf Scholz besuchte während seiner Reise nach Israel im März 2022 die Gedenkstätte Yad Vashem, wo er eine stille Gedenkminute für die Opfer des Holocaust abhielt und in das Gästebuch die Worte schrieb: „Wir werden das millionenfache Leid und die Opfer niemals vergessen.“

In den letzten Wochen hat Scholz anlässlich des Israel-Palästina-Konflikts eine ähnliche Erklärung abgegeben und betont: „In diesem Moment gibt es für Deutschland nur einen Platz. Den Platz an der Seite Israels. Das meinen wir, wenn wir sagen: Die Sicherheit Israels ist deutsche Staatsräson.“

Der Holocaust ist zweifellos eine der bedeutendsten Perioden der Geschichte, die wohl von niemandem unbekannt oder ungehört geblieben ist. Kurz zusammengefasst bezeichnet der Begriff „Holocaust“ die Periode, in der Nazi-Deutschland systematisch und in großem Umfang einen Völkermord an Juden, Roma, Sinti und anderen Gruppen durchführte. Während des Zweiten Weltkriegs, zwischen 1941 und 1945, tötete das Nazi-Regime gezielt und geplant Millionen von Menschen und zwang sie zur Zwangsarbeit in Konzentrationslagern. Der Holocaust steht für eine schreckliche Ära, in der schätzungsweise mehr als 6 Millionen Menschen ihr Leben verloren.

Scholz zeigt in Anbetracht dieses schrecklichen Ereignisses bedingungslose Solidarität mit Israel. Bedauerlicherweise lindert dies jedoch nicht das Leid in Palästina und trägt nicht zur Erreichung eines dauerhaften Friedens bei. Täglich sterben in Gaza wehrlose Kinder. Wird Deutschland akzeptieren, dass die Tötung palästinensischer Kinder Teil der Erfüllung seiner historischen Schuld ist? Kann diese Verantwortung auf diese Weise erfüllt werden?

Erdoğan: „Israel, der Westen schuldet dir viel, aber Türkiye schuldet dir nichts.“

Erdoğans Standpunkt in Bezug auf den Israel-Palästina-Konflikt ist klar und deutlich: Er fordert ein sofortiges Ende des Krieges und die Schaffung eines dauerhaften Friedens. Hierbei schlägt Erdoğan eine Zwei-Staaten-Lösung auf Grundlage der Grenzen von 1967 vor. Dabei fällt Erdoğans diplomatischer Ansatz besonders ins Auge. Während er diesen Standpunkt vertritt, ist er sich seiner starken Position bewusst. Im Gegensatz zu Scholz und anderen westlichen Ländern glaubt Erdoğan, dass Türkiye keine historische Schuld gegenüber Israel hat, da es in der Geschichte von Türkiye keine negativen Vorfälle gegenüber Juden gab.

In Türkiye und während der Ära des Osmanischen Reiches lebten Juden in Frieden. Das Osmanische Reich diente den Juden immer als sicherer Hafen. In der Zeit des Fatih Sultan Mehmet wurden sogar einige Gruppen von Juden aus Deutschland in osmanische Gebiete umgesiedelt. Während der Herrschaft von Sultan Beyazit II. wurden Hunderttausende von Juden aufgenommen, die 1492 aus Spanien (Sephardim) und 1497 aus Portugal geflohen waren. Selbst der US-Konsul in Istanbul, H. Maynard, erklärte in einem Bericht vom 26. Juni 1877, dass „die Türken sich gegenüber Juden besser verhielten als einige westeuropäische Länder“ und dass Juden, die aus Spanien vertrieben wurden, in Türkiye Zuflucht fanden.

In jüngerer Geschichte öffnete Türkiye seine Türen für viele Juden, die vor dem Holocaust aus Deutschland flohen. Bis 1945 kamen etwa 1000 Flüchtlinge aus deutschsprachigen Ländern, darunter Lehrer, Schriftsteller, Akademiker, Ärzte, Architekten, Juristen, Wissenschaftler und Politiker, nach Türkiye. Der amerikanische Historiker Stanford Shaw schrieb darüber: „Durch die Nutzung von Menschen, die von Hitler aus dem Bildungs- und Wissenschaftsbereich vertrieben wurden, und indem sie Hunderte von ihnen nach Türkiye brachten, trugen Atatürk und Bildungsminister Hasan Âli Yücel erheblich zur Entwicklung der Universitäten und wissenschaftlichen Institutionen in Türkiye bei.“

Das, was den Besuch Erdoğans von früheren Besuchen unterscheidet, ist also die Hintergrundlage der Israel-Palästina-Frage. Während Deutschland sich aufgrund des Holocausts in der Vergangenheit als uneingeschränkt schuldig gegenüber Israel betrachtet, ist Erdoğan aufgrund seiner Geschichte der Ansicht, dass er keine Schuld gegenüber Israel hat. Daher schlägt er die Nutzung diplomatischer Kanäle zur Förderung einer Zwei-Staaten-Lösung in Palästina vor. Bei genauer Betrachtung ist die Situation daher recht klar.

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