Archivbild. 1. Juli 2021: Geflüchtete an Bord eines Bootes (dpa)
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Drei Millionen Syrer von den neuerlichen Angriffen betroffen

Während die mediale Aufmerksamkeit in den letzten Wochen auf die aktuellen Ereignisse in Afghanistan fokussiert war, spitzt sich die Situation in der syrischen Provinz Idlib weiter zu. Etwa drei Millionen Menschen leben im Nordwesten Syriens. Sollten die Angriffe der russischen Luftwaffe, der syrischen Armee und Irans weiter anhalten, werden diese Menschen gezwungen sein, in Richtung türkische Grenze zu fliehen. Die Angriffe verstoßen gegen die Waffenstillstandsvereinbarung vom März 2020, bei der sich Türkei und Russland nach fast zwölfstündigen Verhandlungen in Moskau auf eine Deeskalationszone in Idlib geeinigt hatten.

Die Türkei beherbergt bereits über vier Millionen syrische Flüchtlinge

Es ist jedoch nicht das erste Mal, dass Syrien und die Schutzmacht Russland die getroffene Waffenstillstandsvereinbarung ad absurdum führen und Idlib, das als Hochburg der syrischen Opposition gilt, angreifen. Angesichts der dramatischen Ereignisse wäre bei einem Massenexodus nicht nur die Türkei, sondern zwangsläufig auch Europa von einer großen Flüchtlingswelle bedroht. In der Türkei leben bereits über vier Millionen syrische Flüchtlinge und über 300.000 Afghanen. Eine weitere Aufnahme von Flüchtlingen würde – darauf hatte auch Präsident Erdoğan explizit hingewiesen – das Land nicht verkraften und vor ernsthafte Probleme stellen.

200.000 Einwohner mussten bereits die Region wegen der Bombardierung verlassen

Sowohl Aufklärungsdrohnen als auch bewaffnete Luftfahrzeuge der russischen Armee kreisen über der Region, und die syrische Armee greift Idlib mit Raketen und Artillerie an. Opfer dieses Angriffskrieges sind vor allem Kinder – vor einer Woche kamen bei Luftangriffen 18 Zivilisten ums Leben, 15 davon waren Kinder. Medienberichten zufolge hat sich bereits ein Flüchtlingskonvoi von etwa 200.000 Geflüchteten gen Norden auf den Weg gemacht, um in der Türkei Zuflucht zu suchen. Um die Lage in Syrien ging es auch bei den Gesprächen des russischen Sondergesandten Alexander Lawrentyew in der türkischen Hauptstadt am 3. August, was jedoch Russland nicht daran hinderte, die Luftangriffe fortzuführen.

Russland versucht mit den Angriffen, drei Millionen Syrer an die türkische Grenze zu treiben

Mit der Bombardierung von Idlib versucht Russland, drei Millionen Syrer in Richtung Türkei zu treiben, um Ankara zu schaden. Die türkische Armee ist mit Zehntausenden von Soldaten und militärischen Gerätschaften in dem Gebiet und in weiteren Grenzregionen Syriens präsent. Die Türkei hat es in Syrien mit verschiedenen Akteuren zu tun, die jeweils ihre eigenen Interessen verfolgen. Der syrische Machthaber Assad ist zwar noch Präsident Syriens, aber auf Gedeih und Verderb auf Russland angewiesen, weil Moskau seit der militärischen Intervention 2015 in den syrischen Bürgerkrieg die Geschicke in Damaskus bestimmt. Ein weiterer Verbündeter des Assad-Regimes ist der Iran, was Israel auf den Plan ruft, weil es Teherans Aktivitäten in der Region als Bedrohung seiner Sicherheit betrachtet. Ein weiterer Akteur sind die USA, die Spezialkräfte in Nordostsyrien stationiert haben und die Terrororganisation PKK/YPG unterstützen. Die Türkei hat eine 911 Kilometer lange Grenze zum Nachbarland Syrien. Aufgrund der kriegerischen Auseinandersetzungen in Syrien flohen mehr als 4 Millionen Menschen in die Türkei, die damit weltweit die größte Anzahl an Flüchtlingen beherbergt. Als Regionalmacht gehört Ankara zu den wichtigsten Akteuren in Syrien.

Moskaus Militärintervention in Syrien veränderte die Machtverhältnisse

Nach Beginn des syrischen Bürgerkriegs 2011 bildeten die USA und einige arabische Staaten mit der Operation Timber Sycamore radikale terroristische Gruppierungen aus und finanzierten sie, um Assad zu stürzen. Die militärische Intervention Russlands 2015 zugunsten der syrischen Regierung veränderte die Kräfteverhältnisse, und auch der Iran sprang Damaskus mit Milizen und Waffen bei. Aber auch Washington blieb nicht untätig, und neben der Anwesenheit von US-Spezialkräften in Nordostsyrien unterstützen die Vereinigten Staaten die Terrororganisation PKK/YPG massiv mit Waffen sowie Munition und bilden diese Terroristen aus.

Obama-Administration trägt Mitverantwortung an Entstehung von Daesh/IS

Die Politik der Obama-Administration trug mit dazu bei, dass eine Terrororganisation wie Daesh entstehen konnte. Mithilfe dieser Terrorgruppe, die im Irak und Syrien unter der Bevölkerung Angst und Schrecken verbreitete, wurden weite Gebiete erobert und teilweise entvölkert.

Es wäre für die US-Luftwaffe ein Leichtes gewesen, die schwer bewaffneten Pick-ups der Daesh-Terroristen im Irak und in Syrien mit gezielten Luftschlägen zu zerstören. Aber die Strategen des US-Verteidigungsministeriums griffen zur cineastischen Trickkiste: Die „guten“ Terroristen der PKK/YPG wurden vorgeschickt, um die „bösen“ Terroristen der Daesh zu besiegen. Das Drehbuch war bereits vorher geschrieben, und wie in einem Hollywood-Streifen üblich wurde das Böse schnell besiegt und nebenbei 30 Prozent Syriens von den „Helden“ der PKK/YPG okkupiert; die wichtigsten Erdölfelder und Wasserreserven des Landes fielen in die Hände der Extremisten. Die US-Armee griff nicht gegen Daesh ein, um später einen „PKK/YPG-Staat“ in Nordostsyrien zu gründen.

Ethnische Säuberungen durch PKK/YPG in den besetzten Gebieten Syriens

Mit Wissen der Amerikaner mordete und brandschatzte die PKK/YPG, verbot die arabische Sprache an vielen Schulen und führte ethnische Säuberungen durch. Ein toller Verbündeter sind die Vereinigten Staaten, wenn unter dem Deckmantel von Demokratie und Freiheit im Nahen Osten, in Nordafrika und zuletzt in Afghanistan beim angeblichen Kampf gegen den Terror völkerrechtswidrige Militärinterventionen durchgeführt werden, im Irak dabei 1,5 Millionen Menschen ihr Leben verlieren und die betroffenen Länder vor allem Leid, Instabilität und noch mehr Armut erfahren.

Von Ankara wird erwartet, es solle die Millionen von syrischen Flüchtlingen, die in der Türkei leben, gut behandeln und keinesfalls nach Europa schicken, weil das der alte Kontinent nicht verkraften könne. Hat sich irgendjemand in Brüssel darüber Gedanken gemacht, ob die Türkei überhaupt in der Lage ist, all diese Geflüchteten zu beherbergen? Vermutlich nicht, denn es wird immer darauf hingewiesen, dass die EU der Türkei 6 Milliarden Euro an Unterstützung gewährt habe. Was ist mit den wirtschaftlichen und sozialen Folgen für die türkische Gesellschaft?

USA und europäische Staaten tragen Mitverantwortung an der Flüchtlingsmisere

Insbesondere die USA und einige mit ihr verbündete arabische Staaten tragen eine Mitschuld an der aktuellen syrischen Flüchtlingsmisere, weil sie versuchten, die syrische Regierung unter Zuhilfenahme von Terrororganisationen zu stürzen und damit Millionen von Syrern zwangen, ihre angestammte Heimat zu verlassen. Zahlreiche europäische Staaten tragen ebenfalls eine Mitverantwortung am Flüchtlingselend, weil sie zum einen den von den Vereinigten Staaten organisierten Versuch, Assad zu stürzen, unterstützten und zum anderen die illegale Besetzung syrischen Territoriums durch die Terrororganisation PKK/YPG über Washington legitimierten.

Doppelmoral der EU-Staaten gegenüber der Türkei

Wie anders ist es zu erklären, dass die EU-Staaten, als die Türkei im August 2016 eine Militäroperation gegen die Terrororganisation Daesh und die PKK/YPG durchführte, von einer „völkerrechtswidrigen Besetzung Syriens“ sprachen? Türkische Militäreinheiten rückten 2016 im syrischen Al-Bab ein, um die Stadt von Daesh-Terroristen zu befreien, was der türkischen Armee auch gelang. Die damals gebildete Anti-Daesh-Koalition aus verschiedenen Ländern hatte im Vorfeld der Militäroperation von der Türkei gefordert, nicht in Al-Bab einzumarschieren.

Wenn diese Staaten, die diese Terrororganisation eigentlich bekämpfen sollten, von der Türkei verlangten, nicht nach Al-Bab vorzurücken, hieß das im Ergebnis, gar nichts gegen Daesh zu unternehmen. Dieses Ansinnen widerspricht den Prinzipien zur Bekämpfung des internationalen Terrorismus der NATO-Staaten. Es ist inakzeptabel, wenn die USA und andere europäische Staaten die PKK/YPG gegen die Türkei mit Waffen und Munition ausrüsten und gleichzeitig von einem NATO-Verteidigungsbündnis sprechen, in dem die Türkei seit 1952 Mitglied ist.

Das Hauptziel der türkischen Regierung in Bezug auf Syrien besteht darin, dafür zu sorgen, dass die in der Türkei lebenden syrischen Flüchtlinge, wenn die Verhältnisse in Syrien es zulassen, sicher wieder in ihre Heimat zurückkehren und in Frieden dort leben können. Um dieses Ziel zu erreichen, bedarf es einer Zusammenarbeit mit den europäischen Staaten und internationalen Organisationen. Wenn die Intention der EU und der USA weiterhin darin besteht, eine Terrororganisation wie die PKK/YPG mit allen Mitteln in Syrien zu unterstützen, wird es mit der Türkei keine Zusammenarbeit geben können.

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