12 weitere türkische Schulen wurden in Westthrakien geschlossen. (AA)
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Nach einer Publikation des Vereins Erinnerung und Begegnung lebten 2020 über 300 Volksgruppen auf dem europäischen Kontinent. Zu dieser gehört auch die türkische Minderheit in Westthrakien, deren Siedlungsgebiet sich hauptsächlich im nordöstlichen Teil Griechenlands befindet. Das griechische Bildungsministerium beschloss letzte Woche die Schließung von 12 Grundschulen der türkischen Minderheit im Regierungsbezirk İskeçe (Xanthi) und Rodop wegen angeblich „sinkender Schülerzahlen“, was zu Protesten von politischen Parteien und NGOs in der Region führte.

Staatlicher Druck auf Institutionen und Mitglieder der türkischen Minorität

Seit Unterzeichnung des Lausanner Vertrags vom 24. Juli 1923 versuchen griechische Regierungen mit unterschiedlichen Mitteln, die ethnische Gruppe der Türken aus Westthrakien entweder durch erzwungene Aussiedlung, Entzug der Staatsangehörigkeit oder durch Assimilation unter Druck zu setzen. In Anlehnung an den Paragrafen 19 des griechischen Staatsbürgerschaftsgesetzes wurde von 1955 bis 1998 zirka 60.000 Türken aus Westthrakien die griechische Staatsangehörigkeit aberkannt.

Nationalistische Minderheitenpolitik leugnet die Existenz von Ethnizitäten

Dieser Paragraf 19 wurde 1998 unter anderem auf Druck der EU abgeschafft, was allerdings rückwirkend keine Auswirkungen auf den Entzug der griechischen Staatsbürgerschaft der betroffenen Bürger hatte. Der willkürliche Entzug der Staatsbürgerschaft verstößt gegen Artikel 15 Absatz 2 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen. Griechische Regierungen betrachten die türkisch-muslimische Gesellschaft Westthrakiens stets als „Bedrohung“, weil Athen unabhängig vom eigenen politischen Spektrum eine nationalistische Minderheitenpolitik verfolgt und ethnische Minderheiten im Land grundsätzlich nicht anerkennt.

Demografische Strukturen haben sich durch gezielte Ansiedlungspolitik zugunsten der griechischen Bevölkerung verändert

Ein weiteres Beispiel der griechischen Minderheitenpolitik ist die bewusste Ansiedlung von Griechen aus anderen Landesteilen und christlich-orthodoxen Pontosgriechen aus der ehemaligen Sowjetunion in Westthrakien. Durch den Zuzug von Griechen nach Westthrakien haben sich die demografischen Strukturen zugunsten des griechischen Bevölkerungsanteils verändert. Während in den 20er Jahren des vergangenen Jahrhunderts der Bevölkerungsanteil der Westthrakien-Türken noch bei 65 Prozent lag, hat sich dieser Anteil auf 30 Prozent verringert. Der gleiche Trend ist auch beim Landbesitz zu beobachten. Lag der Landbesitzanteil der Westthrakien-Türken 1923 noch bei 84 Prozent, liegt er heute bei etwa 25 Prozent.

Griechenland hält sich nicht an den Lausanner Vertrag

Obwohl sich Griechenland als Signatarstaat des Lausanner Vertrags kontraktlich dazu verpflichtet hat, die Rechte der türkischen Minderheit im eigenen Land zu wahren und zu schützen, nimmt die Pression auf die zahlenmäßig auf etwa 150.000 Mitglieder geschätzte türkisch-muslimische Minderheit weiter zu. Der Lausanner Vertrag sichert der türkischen Minderheit den Gebrauch ihrer Sprache, Religion und Kultur zu. Statt den Schülerinnen und Schülern den Zugang zur Minderheitensprache Türkisch und Religionsunterricht zu gewährleisten sowie eine ausreichende Anzahl an Schulbüchern zur Verfügung zu stellen, werden von den griechischen Behörden weitere Einschränkungen auferlegt. Somit ist ein adäquater Unterricht nicht gewährleistet.

Bis 1983 spielte die ethnische Herkunft keine große Rolle

Griechische Regierungen erklären immer wieder, dass im Vertrag von Lausanne von einer türkischen Minderheit nicht die Rede sei, sondern von einer muslimischen. Die Muttersprache dieser Volksgruppe ist Türkisch, und die kulturellen Bräuche und Traditionen weisen auf die türkische Herkunft hin. Der Antagonismus besteht darin, dass in Griechenland bis 1983 die Ethnizität der türkischen Minderheit keine große Rolle spielte und ab dem erwähnten Jahr zivilgesellschaftliche Organisationen wie die Türkische Union von İskeçe (Xanthi) oder die Türkische Lehrerunion von Westthrakien, die bereits seit Jahrzehnten existierten, von den Gerichten verboten wurden, weil diese in ihrem Namen den Begriff Türkisch führten.

Athen weigert sich seit 13 Jahren, mehrere Urteile des Europäischen Gerichtshofs umzusetzen

Wegen dieser rechtswidrigen Praxis hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) Griechenland 2008 in drei Verfahren rechtskräftig verurteilt und das Land dazu aufgefordert, den verbotenen Vereinen den Rechtsstatus wieder zurückzugeben. Seit 13 Jahren weigert sich Athen, das Urteil des Europäischen Gerichtshofs umzusetzen, und verstößt damit gegen Artikel 46 Absatz 1 der Europäischen Menschenrechtskonvention.

Politisches Kalkül hinter Schließung der türkischen Minderheitsschulen

1995 lag die Zahl der türkischen Minderheitenschulen in Westthrakien bei 231. Mit der angekündigten Schließung von 12 Grundschulen hat sie sich heute auf 103 verringert. In den letzten 10 Jahren hat sich Zahl der Minderheitsschulen nahezu halbiert. Was bei den derzeitigen Schulschließungen auffällt: Zahlreiche Schulen sind geografisch voneinander nicht weit entfernt, und man hätte sie in einer Schule zusammenlegen können. Eltern, die ihre Kinder an einer dieser Grundschulen anmelden wollten, wurden an andere Schulen verwiesen, bei denen es sich nicht um Minderheitsschulen handelte.

Damit wurde ein Anstieg der Schülerzahlen in den betroffenen Ortschaften verhindert. Bei der Entscheidung zur Schließung der Minderheitsschulen geht es also nicht um „sinkende Schülerzahlen“, sondern um politisches Kalkül. Zahlreiche Gebäude der noch vorhandenen Minderheitsschulen befinden sich in einem schlechten Zustand, und Lehrmaterialien sind teilweise veraltet. Das griechische Bildungsministerium hat in diesem Zusammenhang keine Institution der türkischen Minderheitsschulen konsultiert und auch Anfragen unbeantwortet gelassen.

Neues Gesetz greift die Bildungsautonomie der türkischen Minderheitsschulen an

Das griechische Parlament verabschiedete Ende Juli einen Gesetzentwurf des Ministeriums für Bildung und religiöse Angelegenheiten „zur Verbesserung des Bildungsniveaus sowie Weiterentwicklung an Schulen und der Lehrkräfte“. Was als Reformpaket gepriesen wurde, ist in Wirklichkeit ein Angriff auf die Bildungsunabhängigkeit der Minderheitsschulen in Westthrakien.

Nutznießer des Gesetzes sind die staatlichen griechischen Schulen, weil die türkischen Schulen der Minderheit von der Reform ausgenommen sind und eine Kooperation mit anderen Institutionen oder Vereinen explizit untersagt sowie Spenden oder andere Einnahmen für die Minderheitenschulen verboten sind. Den türkischen Minderheitenschulen ist es auch nicht erlaubt, Partnerschaften mit Schulen im Ausland abzuschließen. Die Interessenvertretung der türkischen Minderheit aus Westthrakien, die Föderation der West-Thrakien Türken in Europa, hat in einem Statement die Einbeziehung der türkischen Minderheitsschulen zum verabschiedeten Gesetz gefordert und eine Rücknahme der diskriminierenden Regelungen verlangt.

Die türkischen Minderheitsschulen in Westthrakien genießen einen Sonderstatus, da der Lausanner Vertrag den rechtlichen Rahmen für die Existenz dieser Bildungseinrichtungen geregelt hat. Unterrichtssprache in diesen Schulen ist bilingual, also in griechischer und türkischer Sprache. Das Curriculum orientiert sich an den Vorgaben des griechischen Bildungsministeriums. Es sind keine staatlichen Schulen, sondern Einrichtungen der türkischen Minderheit, bei denen der Schulbetrieb durch gewählte Vertreter durchgeführt wurde. Griechenland missachtet den Lausanner Vertrag, indem es seit Jahrzehnten mit Gesetzen und Verordnungen in den Schulbetrieb und die Selbstverwaltung der Minderheitsschulen interveniert und somit den Vertrag aushebelt.

Religiöse Autonomie der türkischen Minderheit existiert nur auf dem Papier

Ein weiterer Aspekt ist die religiöse Autonomie der türkischen Minderheit, die ebenfalls im Lausanner Vertrag geregelt ist. Demnach steht es der Volksgruppe rechtlich zu, ihre eigenen Imame durch Wahlen zu bestimmen. Auch in diesem Fall hält sich Athen nicht an die vertraglich zugesicherte religiöse Autonomie und ernennt selbst Imame für die Gemeinden. Wenn ein gewählter Imam gegen diese gesetzeswidrige Praxis vor Gericht klagt, werden diese Klagen abgewiesen und diese Imame sind Repressionen seitens der Behörden ausgesetzt.

Athen erklärt zwar immer wieder, es setze den Lausanner Vertrag „vollständig um“, aber die gravierenden Rechtsverstöße gegen die Rechte der türkischen Minderheit haben solche Ausmaße angenommen, dass die Verlautbarungen des griechischen Außenministeriums wie Hohn klingen. Die willkürliche Schließung von türkischen Minderheitsschulen in Westthrakien sollte als Teil eines Plans zur Aushöhlung der Selbstbestimmung der türkischen Minderheit in den Bereichen Bildung und Religion betrachtet werden, denn es geht um die Zukunft der Westthrakien-Türken, die ernsthaft in Gefahr ist.

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