Berlin: Scholz und Giffey sprechen nach Todesfahrt von „Amoktat“ (dpa)
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Am Berliner Kurfürstendamm, auf der anderen Seite der Gedächtniskirche, wo 2016 ein Terroranschlag mit einem LKW auf den Weihnachtsmarkt verübt wurde, gibt es am 10.6.2022 eine Tote, und 32 weitere Menschen werden verletzt. Ein Mann lenkte einen Renault Clio auf den Gehweg in eine Gruppe von Menschen. Dann fuhr er noch einen Block weiter, steuerte erneut auf den Gehweg, ehe die Fahrt im Schaufenster einer Parfümerie endete. Als der Fahrer zu Fuß zu fliehen versuchte, bildeten Passanten um ihn einen Kreis und hielten ihn auf, bis ein Polizist ihn festnahm.

Hilfe und Kommunikation

Dieses Mal schienen Polizei und Feuerwehr deutlich besser vorbereitet zu sein als beim Anschlag auf den Weihnachtsmarkt 2016. Einsatzkräfte waren mit Krankenwagen und Hubschraubern schnell vor Ort, versorgten die Opfer medizinisch und psychologisch, sperrten die Umgebung ab, auch die U-Bahn unter dem Tatort, und evakuierten das gegenüberliegende Europacenter. So wurden mögliche Risiken reduziert, falls es weitere Täter oder Sprengstoff im Auto geben würde. Pressesprecher kommunizierten direkt und differenziert, ohne voreilige Schlüsse zu ziehen. Die Regierende Bürgermeisterin war am Nachmittag vor Ort und kündigte umgehend Hilfe für die Betroffenen an. Auch der Bundeskanzler drückte seine Erschütterung aus.

Die Polizei bat um Hilfe von Augenzeugen und richtete eine Möglichkeit ein, Bilder und Videos von der Tat hochzuladen, bat aber zugleich darum, solches Material nicht selbst online zu teilen. Was bekannt war, wurde kommuniziert, soweit es die Ermittlungen nicht behinderte. Bis zum Abend blieb offen, ob es sich um einen Unfall, eine vorsätzliche Tat oder um eine medizinische Notlage handelte, wie etwa 2019, als ein SUV in Berlin auf einen Gehweg geraten war, nachdem der Fahrer einen epileptischen Anfall erlitten hatte. Über Nacht wurde die Tat dann als Amoktat eingestuft.

Symbole und Parallelen

Selbst ohne Wissen um die spezifischen Umstände war schon bei den ersten Informationen klar, dass es sich nicht um einen der Verkehrsunfälle handelt, wie sie in Berlin 2020 insgesamt 126.268 mal offiziell registriert wurden. Dagegen sprach schon der Ort: Der Kudamm am Breitscheidtplatz mit der Gedächtniskirche ist das Herz Westberlins. Der Boulevard verzeichnet den höchsten Einzelhandelsumsatz in Deutschland, entsprechend finden sich dort besonders viele Fußgänger, die einkaufen und flanieren. Als die Mauer am 9.11.1989 fiel, zog es DDR-Bürger in der Nacht dorthin, als sie zum ersten Mal den Westen Berlins besuchen konnten. Bei Fußballweltmeisterschaften, Raves, Corona-Demos oder Hochzeiten ziehen dort die Autokorsos entlang. Wegen des Bus- und Lieferverkehrs kommen Autos nur langsam voran. Wer trotzdem schnell fährt, nimmt eine Gefährdung von Menschen in Kauf, wie bei illegalen Autorennen, bei denen am gleichen Ort 2016 ein Unbeteiligter zu Tode kam.

Auf der anderen Seite der Gedächtniskirche, die für die Zerstörung Berlins im Zweiten Weltkrieg steht, verübte der Terrorist Anis Amri 2016 mit einem LKW einen Anschlag auf den Weihnachtsmarkt, bei dem 12 Menschen starben und über 170 verletzt wurden. Seitdem wird der Breitscheidtplatz rund um die Gedächtniskirche mit Pollern und aufwändigen Sicherungssystemen geschützt, um eine solche Tat an dieser Stelle nicht mehr möglich zu machen. Der Aufwand der Befestigung erinnert aber nicht nur daran, was dort 2016 geschehen ist. Er drückt auch die Verwundbarkeit offener Gesellschaften und die Hilflosigkeit solcher Maßnahmen aus. Denn auch wenn es Fahrzeugen auf der Nordseite des Kudamms nicht mehr möglich ist, auf den Gehweg zu gelangen, so ist die Südseite so ungeschützt wie alle anderen Straßen in der Stadt, und es hatte eine besondere Symbolik, dass es Passanten genau auf der anderen Straßenseite gegenüber den Sicherungssystemen traf.

Interpretationen und Befürchtungen

In der Berichterstattung über das Geschehen am Kudamm waren die Kommentatoren um Aufklärung bemüht. Sie versuchten sich an Erklärungen und stützten sich dabei auf Indizien und Vermutungen. Für einen Terroranschlag sprach der symbolträchtige Ort, aber nicht der Umstand, dass das Tatfahrzeug ein Kleinwagen war. Für einen Terroristen sprach, dass es sich um einen 29-jährigen mit doppelter Staatsangehörigkeit handelte, aber als Deutsch-Armenier passte er nicht ins Schema eines mit stereotypischer Zuschreibung „islamistischen Täters“. Um eine Nähe zu Russland und dem Krieg in der Ukraine zu konstruieren, fehlte es an Begründungen. Auch die Opfer, eine Realschulklasse aus Hessen auf Abschlussfahrt mit Lehrerin und Lehrer, boten wenig an für politische Schlussfolgerungen. Die Boulevardpresse verbreitete das Gerücht, die Polizei habe ein Bekennerschreiben gefunden, was jedoch später dementiert wurde. Bestätigt wurde, dass sich im Auto Plakate mit Türkiye-kritischem Inhalt befunden hätten, was aber auch nicht reichte, um daraus ein Tatmotiv zu stricken.

Ein Sondereinsatzkommando der Polizei durchsuchte die Wohnung des Täters, der seit 10 Jahren in Berlin-Charlottenburg mit seiner Schwester lebt. Im Verhör und auch nach Aussagen von Augenzeugen, die ihn festgehalten hatten, erschien der Mann verwirrt und habe um Hilfe gebeten. Den Behörden und dem Verfassungsschutz gegenüber war er bislang nicht auffällig geworden.

So erscheint die Tat in ihrer Sinnlosigkeit schrecklich und zufällig, zugleich aber auch als ein Fall, bei dem dieses Mal in der Katastrophe nicht viel falsch gemacht worden ist, jedenfalls so weit sich das bislang beurteilen lässt. Passanten zeigten Zivilcourage, Helfer boten professionelle Unterstützung, Politiker reagierten prompt und angemessen, Medien hielten sich mit voreiligen Schlüssen zurück und berichteten differenziert und besonnen. Auch wenn sich solche Taten nicht verhindern lassen, macht es einen Unterschied, wie mit ihnen umgegangen wird. Auf den Versuch, die grausame Tat politisch zu instrumentalisieren, wurde verzichtet und jeder hielt sich mit voreiligen Schlüssen zurück. Sollte sich herausstellen, dass die Tat politisch motiviert ist, muss das aufgearbeitet werden. Womit wir uns aber dieses Mal hoffentlich nicht beschäftigen müssen, ist das Fehlverhalten von Behörden, Politik und Medien, wie das in der Vergangenheit nicht selten der Fall war.

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