Joe Biden, Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika. (Reuters)
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Alljährlich am 24. April, wird aus dem Weißen Haus eine Erklärung abgegeben und ist weltweit Gegenstand heftiger Spekulationen zwischen Armeniern und Türken. Welche Worte würde der Präsident der Vereinigten Staaten in seiner Erklärung wählen? Welcher Geschichtsauslegung würde er folgen? Das waren bislang die Fragen, die Millionen von Menschen den Atem anhalten ließen.

Auf den ersten Blick scheint das Gezanke um einen Begriff eine Bagatelle zu sein – ein kleines, unbedeutendes Detail. Doch es ist mehr als das: Die Erklärung des US-Präsidenten wird in der Türkei neben ihrer großen psychologischen Breitenwirkung auch als Gradmesser für die politischen Beziehungen zum Nato-Verbündeten genommen. Für Armenien und insbesondere für die finanzstarke armenische Diaspora in Übersee ist sie die Krönung einer sehr langen und emsigen Lobbyarbeit, für die jährlich Unsummen an Geldmitteln und Zuwendungen aufgebracht werden. Die armenische Diaspora und die Republik Armenien erhoffen sich durch diese Entscheidung eine Kettenreaktion, um den Druck auf die Türkei zu intensivieren. Das Fernziel sind Reparationsforderungen jenseits der 300 Mrd. Dollar und große territoriale Entschädigungen durch die Türkei. Doch der Weg erwies sich als sehr steinig: Nicht einmal zum 100. Jahrestag ließ sich das Weiße Haus, damals noch unter der Ägide Obamas, zu einer pro-armenischen Deutung der Ereignisse hinreißen, sehr zur Enttäuschung der armenischen Diaspora.

Neue Töne unter der Biden-Administration

Doch mit der Amtsübernahme Joe Bidens deutete sich eine Zäsur in der offiziellen US-amerikanischen Haltung an: Mitte Dezember 2019 beugte sich der US-Kongress dem enormen Druck der mächtigen armenischen Lobby und betitelte in einem Beschluss die Ereignisse des Jahres 1915 als „Genozid“. Dass Joe Biden einen anderen Weg beschreiten würde als seine Amtsvorgänger, gab er während einer Wahlveranstaltung im April letzten Jahres zu verstehen. Er bezeichnete die hohen Verluste als „Völkermord“ und versprach dem versammelten armenischen Publikum, seine Worte auch als gewählter amerikanischer Präsident wiederholen zu wollen – vorausgesetzt, sie stimmten für Ihn. Deal ist nun einmal Deal und ein Versprechen will bekanntlich eingehalten werden.

Dass das US-amerikanische Staatsoberhaupt vor dem 24. April keine intensiven Studien über die Vorgänge des Jahres 1915 betreiben konnte, liegt auf der Hand. Hierfür müsste er sich wahrlich im Oval Office einigeln und Berge von Akten und Archivmaterialien durchforsten. Nein, Präsidenten stehen stark unter dem Einfluss ihres Beraterteams und fällen Entscheidungen je nach politischer Konjunkturlage. Historische Fakten spielen in diesem Zusammenhang kaum eine Rolle. Hinzu kommt, dass viele Mitglieder des Beraterstabes Joe Bidens aus ihrer geringschätzigen Wahrnehmung der Türkei keinen Hehl machen. Zu ihnen gehören allen voran Außenminister Anthony Blinken, der Nationale Sicherheitsberater Jake Sullivan sowie der in der türkischen Öffentlichkeit oft zitierte Brett McGurk, Mitglied des Nationalen Sicherheitsrates und Koordinator für Nahostfragen.

Beziehungen zwischen Ankara und Washington erleben ein historisches Tief

Dass diese Erklärung des amerikanischen Präsidenten ausgerechnet in diesem Jahr im Einklang mit der armenischen Diaspora abgegeben wurde, ist kein Zufall. Die Beziehungen zwischen Ankara und Washington sind auf ein historisches Tief gesunken. Seien es Syrien- oder Libyenpolitik, die Rivalität zwischen Griechenland und der Türkei im östlichen Mittelmeer, die Palästinafrage oder die Rüstungsgeschäfte mit Russland – beide Länder nehmen trotz ihres Bekenntnisses zur Nato-Allianz oft diametrale Positionen ein.

Bidens Erklärung, das sei an dieser Stelle betont, beruht nicht auf einer prophetischen Eingebung des amerikanischen Präsidenten, seine Wortwahl den Wünschen seiner Wähler armenischer Herkunft anzupassen. Sie speist sich auch nicht aus einer neuen Erkenntnis oder einem bahnbrechenden Archivfund, welcher der armenischen Lesart in der hoch kontrovers diskutierten Thematik zum Durchbruch verholfen hätte. Ganz im Gegenteil, der Diskurs um die Vorgänge des Jahres 1915 dümpelt seit einiger Zeit dahin und bringt zunehmend schwammige Erinnerungsliteratur heraus. Ja, die Entscheidung Joe Bidens ist nicht einmal Ergebnis der armenischen Lobbyarbeit, die in hoffnungsvoller Erwartung auf das Symboljahr 2015 auf eine Erklärung des US-Präsidenten zu den Gedenkfeiern des 100. Jahrestages zielte und sich dabei finanziell sowie materiell verausgabte.

Die abgegebene Erklärung des Weißen Hauses, das ist gewiss, stand ganz unter konjunkturellen Vorzeichen und spiegelt das marode Verhältnis zwischen den beiden Bündnispartnern wider. Dass armenische Diaspora und Lobbyorganisationen dies als großen Sieg feiern und sich gegenseitig auf die Schulter klopfen werden, ist zu erwarten. Rein PR-mäßig scheint dies der Durchbruch im Deutungskampf zu sein, worin viele einen endgültigen Beweis der Völkermordthese erkennen mögen. Doch ist das Staatsoberhaupt eines Landes, und sei es der Präsident einer Supermacht, die legitime Instanz, die über die Faktizität von Geschichte ein Urteil fällen kann? Die Freude Armeniens und der armenischen Diaspora sind womöglich nicht von langer Dauer, denn gerade in den hohen Sphären der Politik neigt man öfters dazu, sein Fähnchen nach dem Winde zu drehen.

Politisierte Geschichte verkommt irgendwann zur Ramschware

Irgendwann werden sich die Beziehungen zwischen den Vereinigten Staaten und der Türkei wieder normalisieren, denn zu wichtig ist die gegenseitige Abhängigkeit und zu offensichtlich die gemeinsamen Interessen. Was würde dann geschehen, wenn das Weiße Haus in seiner alljährlichen Erklärung wieder die Wortwahl aus der Vor-Biden-Ära rezitieren und den „Völkermordbegriff“ unter den Tisch fallen lassen würde? Dann wäre die angebliche Faktizität plötzlich dahin, der Schleier des Triumphs würde fallen und die gesamte Kampagne der armenischen Lobbyisten ad absurdum geführt. Es stellt sich die Frage, ob ein Volk und ein Land eine derartige Politisierung seiner eigenen Geschichte zulassen sollte. Ist es ethisch vertretbar, unter dem Vorwand, seiner Ahnen gedenken zu wollen, die eigene Historie dem Gutdünken von Staatsoberhäuptern fremder Länder zu überlassen?

Mit der Erklärung Bidens ist das Damoklesschwert, das drohend über der Türkei schwebte, gefallen, und die diplomatischen Beziehungen zwischen Ankara und Washington werden neu ausgelegt werden. Für die Türkei ist jetzt amtlich verbrieft, dass die Ereignisse von 1915 ein Aspekt in den offenen Verhandlungspunkten zwischen beiden Ländern geworden sind und in den neu zu mischenden Karten lediglich eine weitere Spielkarte hinzukommt. Doch nun schwebt über den Köpfen der armenischen Diaspora, ihrer Lobbyorganisationen und Armenien ein anderes Schwert, das die Glaubwürdigkeit ihrer Kampagne in Frage stellen wird. Ab jetzt beginnt für sie ein Ritt über den Bodensee, denn jedes Jahr werden sie mit Bangen die Erklärungen der Präsidenten verfolgen müssen, in der Hoffnung, dass erneut ihre Geschichtsauslegung favorisiert wird – falls nicht, droht ihre Erinnerungskultur an die Verluste der Zwangsumsiedlung zur Ramschware zu verkommen.

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