Archivbild. 31.12.2021, Bayern, Gundremmingen: Aus dem Kühlturm des Kernkraftwerks steigt Dampf auf. (dpa)
Folgen

In letzter Zeit haben sich in Europa interessante Entwicklungen im Bereich der Kernenergie vollzogen. In einem an die EU-Länder übermittelten Entwurf eines delegierten Rechtsakts heißt es: „Es ist notwendig anzuerkennen, dass die Sektoren fossile Gas- und Kernenergie zur Dekarbonisierung der Wirtschaft der Union beitragen können.“

Unmittelbar nach Bekanntwerden dieser Nachricht gab es aus Deutschland Einwände. Bemerkenswert ist, dass der Textentwurf zu einer Zeit veröffentlicht wurde, als Frankreich die EU-Präsidentschaft innehatte. Der Versuch, Atomenergie als grüne Energie anzuerkennen, brachte Deutschland und Frankreich gegeneinander auf. Schlüsselfiguren der Bundesregierung wie Wirtschafts- und Klimaschutzminister Robert Habeck und Umweltministerin Steffi Lemke kritisierten die Initiative der Kommission scharf und sagten, Berlin könne das Vorhaben nicht mittragen.

Der umstrittene Vorstoß der Kommission ist Teil der sogenannten „Taxonomie“-Liste. Dabei geht es darum, Milliarden von Euro an Investitionen in Technologien zu lenken, die zum Bau sauberer Kraftwerke und zur Dekarbonisierung der Wirtschaft der Union erforderlich sind.

Dieser letzte Schritt der Kommission brachte die Atomenergie wieder ins Gespräch. In jüngster Zeit haben viele Länder damit begonnen, darauf hinzuweisen, dass Kernenergie ein Instrument sein kann, mit dem das angestrebte Ziel zur Reduzierung der CO2-Emissionen erreicht werden kann.

Zunehmendes Interesse an Kernenergie

Die Kernkraft ist sowohl in der EU als auch anderswo seit vielen Jahren eine umstrittene Energiequelle. Kernenergie liefert etwa 30 % des kohlenstoffarmen Stroms der Welt. In 30 Ländern sind insgesamt etwa 450 kommerzielle Kernkraftwerke in Betrieb. Die weltweite Atomkraftkapazität stagnierte in den letzten zwei Jahrzehnten. Dafür gibt es zwei Gründe: das Wachstum erneuerbarer Energien und die Atomkatastrophe 2011 von Fukushima-Daichi in Japan.

Diese Katastrophe hat weltweit tiefe öffentliche Besorgnis ausgelöst und das Vertrauen in die Atomkraft beschädigt. Nach der Katastrophe wurde berichtet, dass die Internationale Atomenergie-Organisation IAEA ihre Schätzung der bis 2035 zu bauenden zusätzlichen Kernkraftwerkskapazität halbiert hat.

Nach diesen Entwicklungen begannen die EU-Mitgliedstaaten, nach einem Ausweg aus der Kernenergie zu suchen.

Seit 2011 hat sich diese Politik jedoch stark verändert, und die Perspektive auf die Kernenergie hat sich positiv verändert. Dafür gab es vor allem drei Gründe: das Aufkommen von Hochsicherheits-Kernkraftwerken der neuen Generation, die Tatsache, dass der Ausstieg aus der Atomenergie kostspieliger und schwieriger ist als gedacht, und die Notwendigkeit von Ressourcen wie Atomkraft, um die klimaneutralen Ziele der EU zu erreichen.

Das Atomkraft-Abenteuer der EU

Kernkraftwerke erzeugten 2019 rund 26,4 % des in der EU-27 erzeugten Stroms. 2019 verfügten dreizehn EU-27-Länder über betriebsbereite Kernreaktoren: Belgien, Bulgarien, Tschechien, Deutschland, Spanien, Frankreich, Ungarn, Niederlande, Rumänien, Slowenien, Slowakei, Finnland und Schweden.

Der Taxonomieentwurf zur Kernenergie besagt, dass Kernkraftwerke als „nachhaltig“ gelten sollten, wenn das Gastland sicherstellen kann, dass sie der Umwelt „keinen erheblichen Schaden“ zufügen, was die sichere Entsorgung von Atommüll einschließt.

Frankreich, das rund 70 Prozent seines Stroms aus Atomkraft bezieht, hat im Oktober mit neun weiteren EU-Staaten, darunter Polen und Tschechien, eine Erklärung zur Unterstützung der Atomkraft unterzeichnet.

Neben Deutschland wehren sich auch Länder wie Österreich oder Luxemburg aus Sorge um Atomunfälle und Atommüll vehement gegen einen solchen Schritt. Sie möchten, dass die Kernenergie aus der EU verschwindet, anstatt durch die grüne Kennzeichnung den Bau neuer Anlagen zu fördern.

Deutschland-Frankreich-Konflikt

Hinter diesem jüngsten Konflikt zwischen Deutschland und Frankreich könnten neben Umweltfaktoren wirtschaftliche Interessen stehen.

Für Deutschland, wo erneuerbare Energien weit verbreitet sind und bis Ende 2022 alle Atomkraftwerke abgeschaltet werden sollen, ist die Aufnahme der Atomenergie in die „Taxonomie“ eine große Enttäuschung. Die Aufnahme von Nuklearenergie in die „Taxonomie“-Liste bedeutet, in naher Zukunft Milliarden von Euro in Nuklearinvestitionen zu lenken. Als führendes Land bei erneuerbaren Energietechnologien glaubte Deutschland, eine Schlüsselrolle im grünen Transformationsprozess spielen und einen wesentlichen Beitrag zur Wirtschaft des Landes leisten zu können. Angesichts der neuen Taxonomie macht sich das Land jedoch Sorgen über das Risiko von Investitionen und die EU-Förderungen für Atomenergie. Diese Bedenken haben einen triftigen Grund.

Der französische Präsident Emmanuel Macron kündigte vor einigen Monaten eine Umstellung auf kleine, modulare Kernreaktoren an. Macron äußerte dabei, die „höchste Priorität“ seiner Industriestrategie bestehe darin, dass Frankreich bis 2030 „innovative kleine Kernreaktoren“ entwickle.

Länder wie Frankreich und Polen drängen stark auf die Aufnahme der Kernenergie in die Taxonomieliste, da sie argumentieren, es handele sich um eine entscheidende kohlenstoffarme Technologie, die für die Gewährleistung der Energiesicherheit benötigt werde. Dahinter verbirgt sich der wirtschaftliche Nutzen, den Frankreich aus diesem ganzen Prozess ziehen wird.

Die neue Bundesregierung in Deutschland hat erklärt, sie werde sich für die Streichung der Kernenergie aus dem umstrittenen Bericht der Kommission einsetzen. Frankreich, das 70 % seines Stromverbrauchs aus Kernenergie deckt, wird darauf bestehen, dass sie auf der Liste bleibt.

Wenn sich eine Mehrheit der Mitgliedstaaten dafür ausspricht, wird es ab 2023 EU-Recht. Der Atomkonflikt zwischen Deutschland und Frankreich wird mit hoher Wahrscheinlichkeit bis 2023 andauern.

Meinungsbeiträge geben die Ansichten des jeweiligen Autors und nicht die der Redaktion wieder. Für Anfragen wenden Sie sich bitte an: meinung@trtdeutsch.com