Die brennenden Twin Towers des World Trade Centers (Getty Images)
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Eine gute Freundin antwortete mir kürzlich, als ich sie nach ihren Erinnerungen an die Anschläge vom 11. September 2001 fragte: „Ich hatte das erste Mal Angst, dass es in meiner Generation Krieg gibt, und zwar auch hier in Deutschland. Ich hatte große Sorge, u.a. durch die Berichterstattung, dass meine Familie von einem Krieg betroffen sein würde. Bislang kannte ich Krieg nur aus Erzählungen meiner Großeltern. Diese Art der massiven Berichterstattung war ich bis dahin nicht gewohnt. Heutzutage ist das ja schon normal. Wir haben uns ja alle an die Botschaften aus den Medien gewöhnt. Aber damals haben die Berichte mich sehr verunsichert und Angst geschürt.“

Eine Welt gerät aus der Balance

Der 11. September hat unsere Welt verändert. Hätten die Menschen in Deutschland und anderswo damals gewusst, was durch die Ereignisse des 11. September 2001 in den folgenden Jahren auf sie zukommen würde, sie hätten sich wohl gewünscht, in einer anderen Welt oder Zeit zu leben. Viele waren wie gelähmt. Die meisten wissen noch, was sie an dem Tag gemacht haben, wo sie waren und wie oder von wem sie das erste Mal von den Anschlägen auf das World Trade Center und das Pentagon erfahren haben.

Zeitalter der Angst und neuer Kriege

Muslime wie Nicht-Muslime wurden durch die Dauerberichterstattung der Medien, durch die traumatisierenden Bilder, Videosequenzen und seitenlangen Zeitungsartikel regelrecht überrollt. Die Sondersendungen, Eilmeldungen in Minutenabständen, Kommentare von Journalisten, Experten und Politikern zu verstehen, einzuordnen und körperlich wie seelisch zu verarbeiten, war alles andere als gewöhnlich: Es war wie ein Medien-Tsunami, der auf einen zugerollt kam und alles bisher Dagewesene überschwemmte. Als dann George W. Bush – gerade bei einem Schulbesuch – mit Kindern vor die Kamera trat und im selben Atemzug von „Al Qaida“, „islamistischem Terror“ sowie einem „Kreuzzug“ sprach, ließ sich nicht einmal erahnen, was diese Begriffe miteinander zu tun haben sollten und wie sich die Welt nach diesem Tag – auch und insbesondere für Muslime – ändern würde. Was danach unter dem Begriff „War on terror“ geschah, ist bezeichnend und führte gravierende Veränderungen herbei. Mit 9/11 begann ein Zeitalter der Unsicherheit, Angst und neuer Kriege in der Welt. Bezeichnend für diese fragile Zeit war nach dem Einmarsch in Afghanistan die Rede von Colin Powell vor dem UN-Sicherheitsrat im Februar 2003: Darin warf der damalige US-Außenminister dem Irak den Besitz „mobiler Massenvernichtungswaffen“ vor. Dies stellte sich allerdings als eine große, geheimdienstliche Manipulation um nicht zu sagen Lüge heraus. Schon zwei Jahre nach seinem folgenschweren Auftritt titulierte Powell diesen denkwürdigen Tag vor dem UN-Weltsicherheitsrat als „Schandfleck“ seiner Karriere. Völkerrechtlich nicht gerechtfertigte Angriffskriege wurden nun – auch in der deutschen Öffentlichkeit – als „Präventivkriege“ legitimiert.

Bedingungslose Solidarität

Nach den Anschlägen des 11. September 2001 mussten sich neben den USA auch ihre Verbündeten, u.a. auch Deutschland, entscheiden, ob sie diesem Krieg beitreten sollen. Der SPD-Politiker Gerhard Schröder war Kanzler und erklärte dem transatlantischen Verbündeten seine uneingeschränkte Solidarität. Zum ersten und bisher einzigen Mal wurde dann auch der Bündnisfall der NATO nach Artikel fünf ausgerufen. Überhaupt konnte die Welt vor zwanzig Jahren auf eine Welle der bedingungslosen Verbundenheit mit den USA zurückblicken. Viele können sich noch an die amerikanischen Fahnen erinnern, die überall an den Fenstern hingen.

Waren die Opfer vergebens?

Offiziell war das Ziel des Afghanistan-Kriegs, dass das Land nicht mehr als Basis und sicherer Hafen für weltweite Terroranschläge dienen sollte. Der Angriff richtete sich damit primär gegen Al-Qaida. Der zivile Aufbau und die Entwicklung des Landes waren zweitrangig. Es ging um die Sicherheitsinteressen der NATO, allen voran der USA. Heute, zwanzig Jahre nach dem Angriff auf Washington und New York, sind die USA mit ihren Verbündeten aus Afghanistan fluchtartig abgezogen und haben das Land erneut den Taliban, noch viel mehr aber terroristischen Organisationen außerhalb der Taliban-Strukturen überlassen, und man fragt sich nicht ohne Grund, ob die ganzen Opfer vergebens waren. Diese Menschen, Veteranen und Hinterbliebene von Gefallenen, haben das Recht, Überlegungen anzustellen, ob die NATO diesen Krieg wirklich gewonnen hat.

Neue Sicherheitsrisiken

Für die Menschen änderte sich nach dem 11. September die Sicherheitsarchitektur massiv. Auf der ganzen Welt wurden die Sicherheitsmaßnahmen in allen Bereichen des Lebens verschärft und reformiert. Das betraf nicht nur die Flughäfen oder das Surfen im Internet. Die Rasterfahndung wurde wieder eingeführt. Überall wurden Präventionsmaßnahmen ins Leben gerufen.

Die Welt fällt allerdings gerade wieder zurück in den Zustand vor 9/11. Und das birgt für die sicherheitspolitische Zukunft gewisse Risiken. Es bedeutet neue Gefahren für die Welt. Nicht zu vergessen: Auch in Afghanistan gab es wie im Irak viele Bodenschätze und reiche Rohstoffvorkommen. Das Land am Hindukusch hat riesige Ressourcen an sogenannten Seltenen Erden und Edelmetallen. Außerdem grenzt das Land an zwei wichtige Atommächte sowie eine Quasi-Nuklearkraft: China, Pakistan und Iran. Wobei China mit seinem Jahrtausendprojekt „Neue Seidenstraße“ ebenso im Fokus der USA und EU, also der NATO, steht. China hat vor, das transatlantische Zeitalter durch ein transasiatisch-pazifisches Jahrtausend abzulösen. Nichts könnte diesem Projekt so schaden wie neue chaotische Zustände, unbekannte Terrorgruppen oder Organisationen, die die muslimischen Uiguren im Westen Chinas aufwiegeln. Das sicherheitspolitische Vakuum in Afghanistan ist damit nicht nur ein Risiko für den Westen, sondern auch für die Asien-Pazifik-Region. Mit dem plötzlichen Abzug aus Afghanistan hat der Westen sein Glaubwürdigkeitsproblem offenbart. Steht das westliche Bündnis für Sicherheit und Stabilität oder für Chaos und Unberechenbarkeit? Diese Frage stellen sich derzeit viele Menschen, vor allem im „alten Europa“.

Islamophobie-Industrie

Seit den Anschlägen des 11. September 2001 betrachten immer mehr Menschen die islamische Religion und Muslime als eine Bedrohung. Eine Kultur des Generalverdachts spaltet die Gesellschaften. Studien weisen darauf hin, dass jeder zweite Deutsche Muslime als Gefahr ansieht. Ein facettenreicher, islamfeindlicher Sektor („Islamophobie-Industrie“) hat sich seit 9/11 entwickelt. Viele leben von dieser Arbeit oder haben ihre Existenz diesem Sektor zu verdanken: Autoren, Parteien, Bürgerbewegungen, Politiker, Wissenschaftler, Institute, Medienverlage, Journalisten usw. So nähren sich der erstarkte Rechtspopulismus und der Ethnonationalismus in erster Linie aus der Islamfeindlichkeit. Muslimfeindlichkeit bietet selbst Terrororganisationen ein neues Betätigungsfeld. Anschläge auf Moscheen, muslimische Vereine oder Menschen, die muslimisch aussehen, sind heute keine Einzelfälle mehr.

Muslime in der „Identitätsfalle“

Das Thema „Islam“ wird seit dem 11.September politisiert und ideologisch diskutiert. Die Muslime und ihre Religion werden oft als Gegenpol zur christlichen oder deutschen Mehrheitsbevölkerung dargestellt. Hier ist ein Wandel in der Wahrnehmung von Minderheiten festzustellen: Vor dem 11.September wurden Einwanderer eher über ethnische Zuschreibungen wie „Türke“, „Marokkaner“, „Indonesier“ oder „Albaner“ definiert. Heute werden diese Menschen pauschal als „Muslime“ bezeichnet und somit auf ihre Religion reduziert. Der Soziologe Amartya Sen bezeichnet dieses Phänomen als „Identitätsfalle“.

Der 11. September hat die Welt politisch, gesellschaftlich und kulturell verändert. Die geo- und sicherheitspolitisch begründete Intervention hat jedoch nicht zu mehr Stabilität und Sicherheit geführt. Ganz im Gegenteil: Nicht nur die Region, sondern die gesamte Welt blickt zwanzig Jahre nach 9/11 in eine unsichere Zukunft.

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