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Judasbaum-Erkundungen am Bosporus zwischen Ende April und Anfang Mai

Jedes Jahr blühen die Blüten der Judasbäume ab Mitte April in rosa-violetter Farbe, wobei je nach Wetterlage der Zeitpunkt leicht variieren kann. Diese Blüten des Judasbaumes sind dann bis Mitte Mai zu sehen. Wenn die Blüten fallen, erscheinen herzförmige Blätter, die oben blaugrün und im unteren Teil hellgrün sind. Der Judasbaum trägt zudem bohnenförmige, braune Früchte. Das farbenfrohe Erscheinungsbild der Blüten der heimischen und spontan wachsenden Judasbäume kann man von Mitte April bis Ende Mai an den dem Meer zugewandten Hängen der Marmararegion, insbesondere aber in den Gärten und Hainen rund um den Bosporus in Istanbul besichtigen. Da also Judasbäume am Bosporus am schönsten vom Meer zu sehen sind, erfreuen sich Fahrten mit den öffentlichen IDO-Fähren oder eigens für das Betrachten der Judasbäume organisierte Bootsfahrten im Frühling ganz besonderer Beliebtheit und sollten bei Besuchern ganz oben auf der To-do-Liste stehen.

Die Bedeutung des Judasbaumes im Byzantinischen Reich

Die Gründung der Stadt Istanbul durch den byzantinischen Kaiser Konstantin im Jahr 330 n. Chr. wird von Historikern auf den 11. Mai datiert. Der 11. Mai ist sozusagen der Höhepunkt der Jahreszeit, wo also die Blüten des Judasbaumes die Stadt Istanbul schmückten. Wer weiß schon, ob es nur Zufall ist, dass die Stadtgründung zu der Zeit stattgefunden haben soll, als die Stadt in den Farben der Blüten erstrahlte, und so wurde die Farbe Purpur in Byzanz als Farbe des Reiches verwendet. Byzantinische Kaiser trugen lila Umhänge und Gewänder aus Seide. Dabei macht der Umstand, dass die violette Farbe nur aus Meeresschnecken gewonnen werden konnte, diese noch wertvoller. Auch deshalb wurde die Farbe im Byzantinischen Reich als Zeichen der Macht und Privilegien verwendet. Die violette Farbe, die der kaiserlichen Familie vorbehalten war, durfte von niemand anderem verwendet werden und galt damit als kaiserliche Farbe.

Der Platz des Judasbaumes im christlichen Glauben

Der Judasbaum, der im Englischen „Judas Tree“, im Französischen „Arbre de Judee“ und im Türkischen „Erguvan“ genannt wird, heißt wissenschaftlich „Cercis siliquastrum“ und hat im christlichen Glauben eine besondere Geschichte. Judas, einer der 12 Apostel Jesu, verriet damals den Aufenthaltsort von Jesus den heidnischen Römern. Anschließend bereute er aber seinen Verrat so sehr, dass er Selbstmord beging. Der Baum, an dem sich Judas erhängte, war der Judasbaum. Die Blüten dieses Judasbaums waren ursprünglich weiß, verfärbten sich jedoch aufgrund der Schandtat von Judas und der Wahl seiner Äste für den Freitod purpur. Im christlichen Glauben wurde nach dieser Geschichte die Farbe Purpur symbolisch zur Farbe des Schams und der Reue.

Judasbaumfest im Osmanischen Reich

Als Baum, der heute auch symbolisch für die Stadt Istanbul steht, wurde der Judasbaum nicht nur in römisch-katholischen und griechischen Kulturkreisen verehrt, sondern auch in der türkisch-islamischen Kultur. Der Mystiker Emir Sultan, Schwiegersohn von Sultan Bayezid I., nahm die Blütezeit des Judasbaumes zum Anlass, seine Anhängerschaft in Bursa zu versammeln. Laut Aufzeichnungen wurde diese Tradition von seinen Anhängern selbst nach dem Tod von Emir Sultan fortgeführt und als Judasbaum-Fest bzw. Judasbaumjahreszeit gefeiert. Evliya Çelebi beschreibt diese Judasbaumjahreszeit in seinem berühmten Reisebuch als Zusammenkünfte, an denen große Menschenmengen teilnahmen.

Wird dem Markenzeichen Istanbuls die nötige Bedeutung beigemessen?

Prof. Süheyl Ünver, der das Institut für Medizingeschichte der Universität Istanbul gründete, setzte sich bis zu seinem Tod 1986 dafür ein, dass der Bosporus „Judasbaum-Bosporus“ genannt werden müsse und darüber hinaus „Judasbaum-Festivals“ organisiert werden sollten. Der Kulturhistoriker Prof. Dr. Haluk Dursun erfüllte diesen Wunsch von Süheyl Ünver dahingehend, dass er jedes Jahr im Frühling mit der Fähre auf dem Bosporus Judasbaumfahrten organisierte. Dursun setzte diese Exkursionen, die er 1987 begann, bis zu seinem Lebensende 2019 fort. Während dieser Fahrten wurden tausenden von Studenten die schönsten Judasbäume in den Hainen und Gärten von Herrenhäusern am Bosporus präsentiert und dadurch versucht, den Jugendlichen ein Bewusstsein einer gemeinsamen Istanbuler Kultur zu vermitteln. Auch wenn diese Fahrten seit einiger Zeit aufgrund der Pandemie nicht stattfinden können, setzen die Schüler von Haluk Dursun diese Tradition auch nach seinem Tod fort. Obwohl es individuelle Bemühungen gibt, die einzigartige Flora von Istanbul jüngeren Generationen zu vermitteln, sollte die einzigartige Kultur dieser Stadt insbesondere von der Stadtverwaltung breiteren Massen vorgestellt werden. Nur so kann von einer gemeinsamen Kultur der Weltmetropole Istanbul gesprochen werden.

Warum ist der Judasbaum so wichtig?

Der Judasbaum ist als natürlich wachsender Baum zur Farbe Istanbuls geworden. Aufgrund seiner Farbe und ästhetischen Erscheinung fand er Eingang in die Werke von Literaten wie Ahmed Hamdi Tanpınar und wurde in Gemälden von Künstlern wie Ahmet Yakupoğlu thematisiert. Im Osmanischen Reich wurden Bäumen symbolische Bedeutungen zugeschrieben. So repräsentierte die Platane den Staat, die Zypresse den Tod bzw. die Vergänglichkeit der Welt, und der Judasbaum die Ästhetik. Die Osmanen schafften sogar Judasbäume von außerhalb Istanbuls herbei und pflanzten sie ein, um sie in Istanbul zu verbreiten.

Obwohl es aufgrund der Pandemie seit knapp zwei Jahren nicht möglich ist, auf Judasbaum-Schau zu gehen, lohnt es sich dennoch, sich die Orte zu notieren, an denen der Judasbaum am besten zu beobachten ist, verbunden mit der Hoffnung, dass es nächstes Jahr wieder möglich sein wird. Schauen wir uns diesbezüglich die von Haluk Dursun empfohlene Route an, so sollten auf der asiatischen Seite die Parks von Fenerbahçe und Kalamış, der Hügel Küçüksu Sevda, der Khediven-Hain in Çubuklu, der Cemile Sultan-Hain in Kandilli, der Fethi Pasa-Hain in Kuzguncuk und der Papaz-Hain im Vaniköy unbedingt besucht werden. Auf der europäischen Seite sind die schönsten Judasbäume in und rund um den Rumeli Hisarı, im Emirgan-Hain, im Yıldızpark, beim ägyptischen Konsulat in Bebek und bei der Andachtsstätte Yahya Efendi Dergahı zu bewundern.