Die Nakba 1948 prägt das kollektive Bewusstsein der Palästinenser / Photo: AFP (AFP)
Folgen

Von Murat Sofuoğlu

Nach dem Anschlag vom 7. Oktober haben führende westliche Politiker, von US-Präsident Joe Biden über den britischen Premierminister Rishi Sunak bis hin zum französischen Präsidenten Emmanuel Macron, die Hamas verurteilt und verglichen sie bisweilen mit der Terrorgruppe Daesh.

Doch schon in den 1940’er Jahren, also lange bevor palästinensische Widerstandsgruppen wie die Hamas zu den Waffen gegen die israelische Besatzung griffen, bombardierten und erschossen jüdischer Milizen britische Beamte und palästinensische Araber. Die jüdischen Gruppen, darunter die Haganah, die Irgun und die Stern-Bande (Lehi), terrorisierten die britische Mandatsverwaltung über Palästina und schürten Angst unter arabischen Bürgern.

„Ich behaupte, dass der jüdische Terrorismus in den 1940’er Jahren sowohl taktisch als auch strategisch bedeutsam war. Auf taktischer Ebene konnten jüdische Terroristen die britischen Sicherheitskräfte stören und ihre Fähigkeit, Palästina zu kontrollieren, untergraben“, schreibt David A. Charters, Professor für Militärgeschichte an der University of New Brunswick in Kanada.

„Dies spielte auf strategischer Ebene eine wichtige Rolle, um Großbritannien zum Rückzug aus Palästina zu bewegen, was wiederum die Voraussetzung für die Gründung Israels und die daraus resultierende Entstehung einer arabisch-palästinensischen Diaspora war“, so Charters in seinem Artikel „Jewish Terrorism and the Modern Middle East“.

John Lois Peeke, ein amerikanischer Militärexperte, bestätigt ebenfalls, dass der zionistische Terrorismus den Kern der Idee Israels bildete. „Der jüdische Terrorismus gegen Briten und Araber trug in hohem Maße dazu bei, die Briten aus Palästina zu vertreiben, sowie das Mandat des Völkerbundes aufzugeben und den jüdischen Staat Israel zu gründen“, schreibt er in seinem Buch „Jewish-Zionist Terrorism and the Establishment of Israel“.

Zionistische Terrorgruppen nahmen in den 1940’er Jahren ungestraft nicht nur militärische Ziele, sondern auch Zivilisten ins Visier. So griffen im Oktober 1945 zionistische Untergrundgruppen gleichzeitig koloniale Eisenbahnen, Ölraffinerien und Polizeiboote in Palästina an. Dies war der Beginn einer zweijährigen Periode zionistischer Anschläge gegen die Briten und die Palästinenser. Im Juli 1946 sprengte Irgun das King David Hotel in Jerusalem in die Luft. Dort befand sich zu jener Zeit der Sitz der britischen Mandatsverwaltung. 92 Menschen wurden dabei getötet.

„Robert Asprey, Menachem Begin und Samuel Katz wiesen darauf hin, dass das King David Hotel aus zwei Gründen in die Luft gesprengt wurde: zum einen als Vergeltung für den britischen Angriff auf die Jewish Agency und zum anderen um geheime Dokumente zu vernichten, die die Jewish Agency und David Ben Gurion mit dem Terrorismus der Haganah in Verbindung gebracht hätten“, schreibt Peeke.

Die Haganah war der bewaffnete Flügel der Jewish Agency for Palestine, des operativen Zweigs der Zionistischen Weltorganisation. Diese war von Theodor Herzl, dem Gründervater des Zionismus, auf dem ersten Zionistenkongress 1897 im schweizerischen Basel gegründet worden.

Die Jewish Agency for Palestine, die nach 1948 in Jewish Agency for Israel (Jüdische Agentur für Israel) umbenannt wurde, sollte die jüdische Einwanderung aus anderen Ländern nach Israel fördern, schützen und umsetzen. Ben Gurion war von 1935 bis zur Gründung des israelischen Staates im Jahr 1948 Präsident der Jewish Agency und spielte eine entscheidende Rolle bei den Aktivitäten der Haganah. Später wurde Gurion Israels erster Ministerpräsident. Haganah bedeutet Verteidigungskraft, was die zionistischen Führer dazu inspirierte, ihre Streitkräfte nach der Gründung Israels in „Israelische Verteidigungskräfte“ (IDF) umzubenennen.

„Aus den Untergrundaktivitäten der 1940’er Jahre ging der jüdische Terrorismus in militärische Operationen über und aus der Terrororganisation wurde die Israelische Verteidigungsarmee“, schreibt Peeke weiter.

„Ethnische“ Säuberung durch Zionisten

Am 9. April 1948 verübten Irgun- und Lehi-Terroristen gemeinsam das Massaker von Deir Yassin. 107 palästinensische Dorfbewohner wurden massakriert, darunter Frauen und Kinder. Deir Yassin war ein palästinensisches Dorf mit rund 600 Einwohnern in der Nähe von Jerusalem. „Die Brutalität des Irgun-Terrors gegen einfache Palästinenser in Deir Yassin sollte die palästinensischen Araber schockieren und verängstigen. Der Terror sollte die Palästinenser dazu zwingen, ihre Heimat zu verlassen“, sagte Salah Khalaf, einer der Mitbegründer der Fatah-Bewegung, 1979 in einem Interview mit dem französischen Journalisten Eric Rouleau.

Die Fatah ist eine palästinensische Widerstandsorganisation und eine der tonangebenden Gruppen der international anerkannten Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO) im Westjordanland. Während die Fatah heute nach Einordnung der internationalen Gemeinschaft eine legale Gruppierung ist, wurde sie noch in den 1960’er Jahren von den USA und Israel als terroristische Organisation bezeichnet, ähnlich wie heute die Hamas. Denn die Hamas hatte die vergangene Wahl im Jahr 2006 für sich entschieden und damit ihre Regierung legitimiert.

Khalaf, der auch als Abu Iyad bekannt ist, beschreibt in seinem Buch „Palestinien sans patrie“ (Palästinenser ohne Heimat) die Vertreibung zu jener Zeit. Es basiert auf den Interviews mit Rouleau. Darin wird eindringlich geschildert, wie das Massaker von Deir Yassin seine Familie zwang, ihre Häuser in Jaffa zu verlassen und nach Gaza zu ziehen.

Entgegen den offiziellen Darstellungen, so Khalaf, seien damals mehr als 250 Palästinenser von zionistischen Terrorgruppen bei dem Angriff im April 1948 getötet worden, „wobei die jüdischen Täter viele Leichen mit Schlagstöcken malträtierten, und dreißig schwangere Frauen ausweideten". „Das Massaker von Deir Yassin war ein zentrales Ereignis der zionistischen ethnischen Säuberungskampagne gegen die Palästinenser, die seither unter den Folgen leiden“, so Khalaf weiter. Dem Massaker von Deir Yassin folgten weitere zionistische Massaker in palästinensischen Städten wie Saliha und Lydda, die eine Massenflucht der Palästinenser auslösten, die gemeinhin als Nakba bezeichnet wird.

„Anfang 1948 setzte die Haganah ihre Aktivitäten in enger Zusammenarbeit mit separatistischen Organisationen wie Menachim Begins Irgun fort und startete regelmäßige Angriffe zur Räumung arabischer Siedlungen innerhalb der von den Zionisten erdachten jüdischen Staatsgrenzen“, so Khalaf. „Aus Angst vor Massakern wie dem von Deir Yassin beschlossen Hunderttausende Palästinenser, die sich ihrem Schicksal überlassen sahen, ihr Land zu verlassen, um Sicherheit zu finden“, erzählt Khalaf. Unter dem Druck der zionistischen Terroranschläge sahen sich immer mehr Palästinenser gezwungen, ihre Heimat in zu verlassen. Dieser Exodus ging als Nakba („große Katastrophe“) in die Geschichte ein.

Als die Palästinenser ihr Land verließen, hofften sie noch, bald in ihre Heimat zurückkehren zu können. Denn sie glaubten, dass die arabischen Staaten ihre Gebiete zurückerobern würden – was aber nie geschah. Jüdische Migranten aus Europa und anderen Ländern wurden von der Jewish Agency unter dem Schutz bewaffneter zionistischer Gruppen in Palästina angesiedelt. Diese Verdrängung der palästinensischen Bevölkerung dauert bis heute an, da Israel weiterhin illegale Siedlungen in den besetzten Gebieten baut.

Die Irgun, die jahrelang von Menachim Begin angeführt wurde, galt bei der UN, in den USA und Großbritannien als Terrororganisation. Trotz dieser eindeutigen Einordnung konnte Begin später die rechtsgerichtete Herut-Partei gründen. Er wurde sogar 1977 der sechste Ministerpräsident Israels. Die Herut-Partei ging später in der Likud-Partei des amtierenden Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu auf.

„Aufgeben kommt nicht in Frage“

Khalaf, der zum stellvertretenden Chef des Geheimdienstes der PLO und zum zweitmächtigsten Fatah-Führer nach Jassir Arafat aufstieg, betont, „die Palästinenser hätten ihr Land niemals aufgeben dürfen“. „Wenn ich zurückblicke, denke ich, dass meine Landsleute einen Fehler gemacht haben, als sie den arabischen Ländern vertrauten und das Feld den jüdischen Kolonialisten quasi leer überließen. Sie hätten um jeden Preis Widerstand leisten müssen. Denn die Zionisten hätten nicht alle vernichten können. Außerdem war das Exil für viele von uns schlimmer als der Tod.“

Während die Menschen derzeit innerhalb des Gazastreifens vertrieben werden, was nunmehr als zweite Nakba angesehen wird, könnte Khalafs Warnung die Hamas-Führung auf den Plan rufen. Durchgesickerte offizielle Dokumente aus Israel deuten darauf hin, dass die Regierung in Tel Aviv, ähnlich wie bei der ersten Nakba, einen weiteren Plan zur Vertreibung der Palästinenser umsetzt – dieses Mal im Gazastreifen.

Das israelische Militär überzieht die palästinensische Enklave seit mehr als einem Monat mit Luft-, Raketen- und Artillerieangriffen und hat dabei bisher mehr als zehntausend Menschen getötet, darunter auch viele Frauen und Kinder. So ähnlich verliefen die Massaker in Deir Yassir und anderen Gebieten während der 1940’er Jahre. Nun scheint sich die Geschichte vor den Augen der Weltöffentlichkeit zu wiederholen.

TRT Deutsch