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Herr Diekmann, wie verbreitet ist Autismus in Deutschland?

In Deutschland gibt es keine expliziten Studien zur Prävalenz von Autismus. Internationale Studien mit größeren Kohorten aus verschiedenen Ländern und Kulturen zeigen im Mittelwert, je nach Kriterien, eine Prävalenz von +/- 1 Prozent. Wir können davon ausgehen, dass umgerechnet ein Prozent der deutschen Gesamtbevölkerung betroffen ist, wobei sich dieser Wert über alle Altersklassen und das gesamte Spektrum erstreckt, vom Asperger-Syndrom bis zum frühkindlichen Autismus, und alles, was um diese Formen von Autismus herum noch existiert.

Fabian Diekmann ist Diplom-Pädagoge und Fachreferent bei Autismus Deutschland e. V. (Diekmann)

Autismus gilt als tiefgreifende Entwicklungsstörung. Können Sie beschreiben, welche unterschiedlichen Ausprägungen es gibt?

Die traditionelle Unterscheidung zwischen frühkindlichem Autismus, Asperger-Syndrom und atypischem Autismus ist aus heutiger Sicht veraltet. Statt dieser kategorialen Vorstellung von Autismus spricht man mittlerweile von Autismus-Spektrum-Störungen. In Amerika wird bereits nach Schweregraden differenziert. Mit dem Kriterienkatalog ICD11 wird das demnächst auch in Deutschland der Fall sein. Dann können wir Unterstufen differenzieren, die auf funktionale Sprache und kognitive Entwicklung präziser eingehen.

Grundsätzlich lässt sich sagen: Der frühkindliche Autismus steht teilweise mit einer Intelligenzminderung in Verbindung. Dazu zählen oft Menschen, die wenig oder gar nicht sprechen können. Das Asperger-Syndrom geht dagegen in der Regel mit einer normalen Intelligenz, jedoch einer Auffälligkeit im motorischen Bereich einher: Die Betroffenen wirken ungelenk. Beim atypischen Autismus, einer Art Zwischenkategorie, fehlt mal das eine, mal das andere Symptom. Die Gemeinsamkeit aller Autismus-Formen sind die qualitativen Unterschiede in der sozialen Kommunikation und Interaktion. Das ist gleichzeitig auch das Hauptmerkmal bei der Diagnostik.

Wie erfolgt die Diagnostik?

Obwohl dies lange vermutet wurde, ist inzwischen nachgewiesen, dass es kein Autismus-Gen gibt. Eine Diagnostik mittels Genom-Analyse, so wie beim Down-Syndrom, ist somit nicht möglich. Es existieren jedoch verschiedene Testbatterien zur Diagnostik. Dabei handelt es sich um eine sogenannte Summationsdiagnostik, bestehend aus Beobachtungsszenen und Interviews, die in der Regel mit Eltern und nahestehenden Angehörigen geführt werden und bestimmte Marker abfragen. Hierüber ergibt sich dann ein Score, der anzeigt, ob eine Autismus-Störung vorliegt oder nicht.

Bei dieser relativ aufwendigen Diagnostik über mehrere Sitzungen hinweg werden verschiedenste Szenen überprüft, bei Kindern vorwiegend im Spiel-Setting. Dabei wird geschaut: Wie ist das Verhalten in der Interaktion mit anderen Kindern und den Eltern? Ein Beispiel ist die Beobachtung von geteilter Aufmerksamkeit („Joint Attention“): Kleine Kinder machen Bezugs- oder Begleitpersonen in der Regel verbal oder nonverbal auf Erlebtes aufmerksam, wie z.B. ein Flugzeug am Himmel. Dieses Verhalten zeigen autistische Kinder deutlich seltener.

Ist die Diagnostik immer eindeutig?

Eine klare Abgrenzung ist notwendig. Bevor es zu den Standard-Testverfahren wie ADOS und ADI-R kommt, findet im Vorfeld meist ein Vorscreening-Verfahren statt, um zu erkennen, ob es überhaupt Autismus sein könnte. Je nach Spezifikation gibt es für Menschen mit Intelligenzminderung noch weitere Testverfahren, die man ergänzend hinzuzieht.

Aktuell ist Autismus medial eher überrepräsentiert – im Gegensatz zu früher. Daher sind die Anlaufstellen heute stark überlaufen, und wir müssen stärker selektieren und Autismus besser abgrenzen: Es gibt starke Überlappungen zu verschiedenen Persönlichkeitsstörungen, ADHS, zur sozial-emotionalen Entwicklungsstörung und zu Impulskontrollstörungen. Es braucht eine klare Differenzierung, damit betroffene Kinder und Erwachsenen die Unterstützung bekommen, die sie brauchen.

Wie gehen Betroffene und Angehörige in der Regel mit der Diagnose um?

Das ist individuell verschieden. Fallen Besonderheiten bereits im Kindesalter auf, beginnt der Prozess früher. Für Eltern bedeutet dies mitunter, „Trauerarbeit“ zu leisten, weil sie sich von der Erwartung, ein gesundes Kind zu haben, verabschieden müssen. Dieser Annahmeprozess kann länger dauern.

Bei anderen fällt der Autismus erst im Erwachsenenalter auf. Oft haben Betroffene das Gefühl, immer als Sonderling durch Schule und Ausbildung gegangen zu sein. Irgendwann geht dann nichts mehr, und es tritt an einem bestimmten Punkt eine begleitende Depression auf. Im Rahmen der Diagnostik fällt dann auf, dass dahinter noch etwas anderes steckt.

Entscheidend ist auch, wie gut eine Familie aufgestellt ist, ob beispielsweise ein gutes soziales Netzwerk, Kontakte zu anderen Eltern und Anschluss an ein Therapiezentrum und Elterngruppen vorhanden sind.

Gibt es Behandlungsmöglichkeiten und wenn ja, welche?

Das ist ein weites Feld. Betroffenen und Eltern von betroffenen Kindern rate ich grundsätzlich, sich zu informieren. Das Internet ist zwar eine große Informationsquelle, die aber auch unfassbar viele unseriöse Informationen verbreitet. Insbesondere dann, wenn von einer „Heilung“ von Autismus die Rede ist, handelt es sich nicht um seriöse Angebote. Sie dienen nur dem Zweck, mit der Verzweiflung von Eltern Geld zu verdienen. Autismus ist nicht heilbar. Es gibt jedoch Unterstützung und Hilfestellung für die verschiedenen Symptome.

Es gibt verschiedenste Wege der Unterstützung, um damit umzugehen, ein Beispiel sind Sozialkompetenzgruppen. Da lernt man im Zusammenspiel mit anderen, wie das soziale Miteinander funktioniert, die Kommunikation und Interaktion und wo Fallstricke liegen.

Wer begleitend unter Epilepsie leidet, erhält natürlich eine medikamentöse Behandlung. Im Umkehrschluss wird oft gefragt: Gibt es eine Autismus-Pille? Die Antwort ist: Nein. Es gibt nur Medikamente gegen Begleitsymptome. Was es aber gibt, sind therapeutische Verfahren, die z.B. am Spielverhalten oder kommunikativen Aspekten ansetzen.

Immer wieder hört man: Autismus ist keine Krankheit.

In der Autismus-Community gibt es eine große Debatte, besonders unter den sprechenden Autisten, die sagen: „Autismus ist keine Behinderung, sondern eine Eigenschaft von Personen, und es ist gut so, wie es ist.“ Das ist meiner Ansicht nach in dem Moment richtig, wo der Autist dies selbst so empfindet. Es gibt jedoch auch viele Betroffene, die darunter leiden und massive Schwierigkeiten haben.

Man muss dazu auch sagen: Autismus kommt selten allein. Sehr häufig sind Begleitdiagnosen wie Epilepsie oder Depression – die man natürlich nicht als personelle Eigenschaften bezeichnen würde. Dann steht Leidensdruck dahinter, und es braucht Unterstützung.

Welche Unterstützungsangebote bietet Ihr Verband?

Als zentraler Dachverband mit rund 10.000 Mitgliedern versucht Autismus Deutschland e.V., die Blickwinkel von Fachleuten, Eltern und Menschen mit Autismus in einer systemischen Perspektive zu vereinen und zu vernetzen. Wir bieten Aufklärung und Elterngruppen und koordinieren als Dachverband auch politische Arbeit und Diskussionen um Grundsatzfragen. Die 60 Regionalverbände bieten vor allem im lokalen Bereich Unterstützung. Sie sind vielfach Träger von Therapiezentren und Beratungsstellen.