Welt-Braille-Tag am 4. Januar. (AA)
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Laut WHO-Schätzungen leben in Deutschland aktuell rund 1,2 Mio. sehbehinderte und blinde Menschen – und diese Zahl nimmt durch den demografischen Wandel stetig zu. Weil das Leben ohne gute Sehfähigkeit schwierig zu meistern ist, erfand der Franzose Louis Braille Anfang des 19. Jahrhunderts die sogenannte Braille-Schrift. Es handelt sich dabei um ein Punktschriftsystem für Blinde, das heute international verwendet wird.Anlässlich des Welt-Braille-Tages am 4. Januar 2022 hat TRT Deutsch mit dem erblindeten Prof. Dr. Thomas Kahlisch vom Deutschen Blinden- und Sehbehinderten-Verband (DBSV) gesprochen. Er liefert interessante Einsichten in das nützliche Verständigungswerkzeug.

Prof. Dr. Thomas Kahlisch, Direktor dzb lesen und Präsidiumsmitglied beim Deutschen Blinden- und Sehbehinderten-Verband (DBSV) (T. Kahlisch)

Herr Dr. Kahlisch, Sie sind Präsidiumsmitglied beim Deutschen Blinden- und Sehbehinderten-Verband (DBSV). Was machen Sie dort genau?

Ich arbeite ehrenamtlich für den Verband und entwickle für diesen Konzepte und Strategien rund um die Braille-Schrift. Im Projekt „Punktum“ erstellen wir beispielsweise digitales Schulungsmaterial zur Vermittlung der Braille-Schrift, damit mehr Menschen als Braille-Lehrer ausgebildet sind.

Hauptberuflich bin ich Direktor des Deutschen Zentrums für barrierefreies Lesen (dzb lesen) in Leipzig. Wir produzieren Literatur in Braille-Schrift, Hörbücher, aber auch tastbare Abbildungen und viele digitale Angebote für blinde, seh- und lesebehinderte Menschen in Deutschland.

Wie viele Sehbehinderte und Blinde gibt es aktuell in Deutschland?

Eine eindeutige Aussage ist schwierig. Beim DBSV fordern wir schon seit Jahren von der Politik, dass konkrete Zahlen erhoben werden. Laut einer WHO-Statistik gelten 1,2 Mio. Menschen in Deutschland als sehbehindert oder blind. Das wird jedoch nicht weiter differenziert. Andere Zahlen aus der DDR, die auf ganz Deutschland hochgerechnet wurden, gehen von rund 500.000 Sehbehinderten und 150.000 Blinden aus.

Die WHO-Zahl ist mit 1,2 Mio. deshalb so hoch, weil durch den demografischen Wandel zusätzliche Erkrankungen im Alter hinzukommen, beispielsweise die altersbedingte Makula-Degeneration oder das Glaukom. Die Gruppe der älteren Menschen mit Sehproblemen macht mit Sicherheit rund 8 Mio. in der Bevölkerung aus.

Als sehbehindert gilt übrigens, wer trotz kompensierender Hilfen wie Brille oder Kontaktlinsen weniger als 30 Prozent sehen kann. Sieht man weniger als fünf Prozent, spricht man von hochgradiger Sehbehinderung, bei unter 2 Prozent gilt man als blind.

Heute ist Welt-Braille-Tag. Wie funktioniert die Braille-Schrift überhaupt und wie ist sie aufgebaut?

Wer sich die Braille-Schrift genau anschaut und sie ertastet, stellt schnell fest: Sie ist nicht den Buchstaben nachgebildet. In Braille nutzen wir sechs Punkte wie bei einem Würfel: Aus dieser Kombination tastbarer Punkte bilden sich die einzelnen Braille-Zeichen ab. Ein tastbarer Punkt oben links auf der 6 ist beispielsweise der Buchstabe A. Beim Buchstaben B sind auf der linken Seite der obere und mittlere Punkt tastbar, beim C die beiden oberen Punkte. Mit diesem logischen 6-Punkte-Code lassen sich 63 Kombinationen bilden. Einige Schriftzeichen sind nicht darstellbar, für diese gibt es besondere Notationen und kleine Ankündigungen.

Wie hat Ihnen die Braille-Schrift in Ihrem Leben persönlich geholfen?

Ich konnte von Geburt an nicht gut sehen. Mit 14 Jahren bin ich auf Grund von Augenerkrankungen relativ spät erblindet. So musste ich mich in der Schulzeit mit der Braille-Schrift auseinandersetzen. Nach einem Lehrgang konnte ich damit meine Hausaufgaben erledigen und mir Notizen machen.

Das Braille-Alphabet zu verstehen und zu schreiben, geht relativ leicht; das Ertasten der Punkte stellt dagegen eine gewisse Herausforderung dar – besonders, wenn man nicht von Geburt an blind ist, sondern spät erblindet oder sogar erst mit 60 oder 70 Jahren. Es ist zwar auch dann durchaus möglich, tastbare Punkte lesen zu lernen, doch meistens wollen Späterblindete keine Romane in Braille lesen. Für Notizen oder Gesellschaftsspiele nutzen sie Braille jedoch gern.

Jüngere brauchen die Braille-Schrift auch für Beruf und Ausbildung. Ich habe z.B. mit Braille Informatik studiert und meine ersten Programme geschrieben. Die Braille-Schrift begleitet mich schon mein ganzes Leben, auch beruflich. Die Braille-Zeile an meinem PC hilft mir z.B. dabei, neben der üblichen Sprachausgabe Zahlen zu verinnerlichen, Rechtschreibung zu prüfen oder Fremdsprachentexte zu verstehen.

Wie unterscheidet sich die Braille-Schrift in unterschiedlichen Sprachen?

Alle Schriftsprachen haben ein Äquivalent in Braille, d.h. jedes Alphabet hat seinen eigenen Braille-Code. Beim Chinesischen geht man natürlich nicht von den gezeichneten Symbolen aus, sondern wählt eine Form der Darstellung, die sich auf Buchstaben herunterbrechen lässt. Im Russischen gibt es beispielsweise für die Zischlaute spezielle Punkt-Kombinationen, die im dortigen Alphabet enthalten sind. Französisch, Deutsch und Englisch sind sich in Braille sehr ähnlich. Umso unterschiedlicher die Sprachen sind, desto mehr unterscheiden sich auch die Braille-Codes. Die Zahlen sind international aber größtenteils gleich.

Man kann sagen: Die jeweilige Braille-Schrift basiert auf der Rechtschreibung einer bestimmten Sprache – egal, ob Japanisch, Türkisch oder Deutsch. Es gibt aber auch noch eine ganze Reihe anderer Braille-Schriften.

Welche denn?

Zum Beispiel die Mathematik-Schrift in Braille, die man für komplexere Formeln benötigt. Die Braille-Schrift für Elektronik dient dazu, Schaltungen darzustellen. Auch für Informatik, Musiknoten oder zum Stricken gibt es spezielle Braille-Notationen. Aus der 6-Punkte-Kombination lässt sich also alles darstellen, was man braucht, um sich fachlich mit einem Thema auseinanderzusetzen: ob mit Sprachen, Musik oder mathematischen Formeln. Zudem gibt es tastbare Bilder, um Ablaufpläne oder Grafiken zu vermitteln.

Was hat es mit Computerbraille auf sich?

Das ist die Anwendung der Braille-Schrift am Computer. Mit sogenannten Braille-Zeilen, einem einzeiligen Display-Gerät vor der Tastatur, lässt sich der Bildschirminhalt in Braille-Zeichen wiedergeben. Dabei werden die einzelnen Symbole mit 8 Punkten dargestellt. Jede der bis zu 80 Positionen kann einen Buchstaben oder eine Ziffer in Braille anzeigen, indem kleine Stifte hochkommen. Computerbraille kann Sonderzeichen, Groß- und Kleinbuchstaben darstellen und unterscheidet sich deshalb von gedrucktem Braille. Die Unterschiede sind schnell erlernbar für den Anwender.

Große Braille-Zeilen eignen sich zum Mitlesen und Arbeiten, z.B. zur Bearbeitung von komplexen Excel-Tabellen und Word-Dokumenten. Kleine Braille-Zeilen von der Größe einer Pralinenschachtel lassen sich am Smartphone oder Tablet anschließen und im Zug oder Flugzeug verwenden.

Wo kommt die Braille-Schrift heute noch zum Einsatz und erleichtert die Lebensführung von Blinden und Sehbehinderten?

Neben dem Digitalbereich – durch dynamische Braille-Displays am Tablet, Computer und Smartphone zur Textdarstellung – wird die Braille-Schrift auf Medikamentenverpackungen genutzt. Das ist gerade für Ältere wichtig, die sonst nicht wissen, welche Tabletten sie einnehmen.

Am dzb lesen produzieren wir Zeitschriften und Bücher in Braille, die man ausleihen kann, auch Aktuelles, das sich unterwegs gut lesen lässt. Schön sind auch Spieladaptionen. Es gibt z.B. ein Skatspiel mit Braille-Punkten, so dass Blinde mit Sehenden Karten spielen können.

Nützlich sind überdies Braille-Beschriftungen an Treppenaufgängen, zur Bedienung von Fahrstühlen und als Sitznummer-Markierung in den DB-Zügen. Das erspart viele Fragen.

Im Lebensmittelbereich würden wir uns allerdings wünschen, dass es mehr Braille-Markierungen gibt, so dass man z.B. ohne Fragen weiß, welche Pizza man gerade kauft (lacht). Auch eine größere Auswahl an besonderen Produkten, etwa Adventskalender, in Braille wäre schön.

Welche Online- und Offline-Hilfen für Blinde gibt es noch?

Grundsätzlich gibt es zwei Wege, wie Blinde sich die digitale Welt erschließen und über den Computer kommunizieren: das Blindschreiben an der Tastatur und die akustische Sprachausgabe, um Informationen aufzunehmen. Dafür gibt es Vorlesefunktionen bzw. Screenreader, auch am Smartphone und Tablet. Diese lesen den Bildschirm vor und werden über Gesten, Wischbewegungen beispielsweise, gesteuert.

Am Smartphone werden Apps durch einmaliges Antippen zunächst vorgelesen und erst beim zweiten Antippen gestartet. Mit Braille-Zeile kann ich dann alles, was ich höre, auch ertasten: So habe ich es zugleich im Ohr und unter den Fingern. Das Smartphone ist so gesehen heute das Schweizer Taschenmesser der Blinden. Es hilft überall: vom Zeitunglesen über das Abwickeln der Bankgeschäfte bis zur Kommunikation mit anderen Menschen. Die Apps müssen allerdings barrierefrei programmiert worden sein.

Was wünschen Sie sich für die Zukunft?

Es wäre schön, wenn in der Öffentlichkeit noch mehr Braille verfügbar wäre – ob in der Verpackungsindustrie oder indem mehr Wert auf barrierefreie Programme und Apps gelegt wird, damit Blinde alles nutzen können, was auf dem Markt verfügbar ist. Dafür gibt es auch Standards und Technologien, die Entwickler berücksichtigen sollten.

Die Braille-Schrift ist wichtig, auch wenn ältere Blinde diese nicht immer erlernen. Wer sich jedoch im beruflichen Sektor verwirklichen will, für den geht es nicht ohne die Vermittlung von Text, Wissen und Rechtschreibung in Braille.

Vielen Dank für das Gespräch!