Symbolbild: Ein Soldat mit einem NATO-Abzeichen in Afghanistan.  (AFP)
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von Ali Özkök

Nach dem Abzug der US-geführten Koalition aus Afghanistan werden die Taliban noch mehrere Gebiete unter ihre Kontrolle bringen können, warnt Obaidullah Baheer, Konfliktforscher und Dozent an der Kardan-Universität in Kabul, im Gespräch mit TRT Deutsch. Die USA hätten diese Entwicklung eingepreist, da eine vollständige Machtübernahme der Milizen im gesamten Land dennoch unwahrscheinlich sei.

Der Abzug der Nato-Truppen aus Afghanistan ist auf dem Weg, die Sorge über eine mögliche Rückkehr der Taliban an die Macht bleibt im Raum. Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, das Jahr 1996 noch einmal zu erleben?

Die Region hat, zumindest auf dem Papier, die Idee einer Rückkehr des Emirats abgelehnt. Es scheint jedoch, dass die meisten regionalen Akteure auch die derzeitige Regierung nicht an der Macht sehen wollen. Die Taliban haben in den 1990er Jahren nicht nur Sponsoren gewonnen, was bedeutet, dass sie ein größeres Gefühl von Autonomie haben. Diese Autonomie wird die regionalen Akteure dazu drängen, dafür zu sorgen, dass die Macht in der kommenden Ordnung geteilt wird, so dass sie dadurch den Druck der Taliban ausgleichen und intern politischen Gegendruck auf sie ausüben können, damit sie sich an bestimmte Regeln halten, die auch ihre Interessen wahren. Das heißt: Wenn die Vereinigten Staaten zustimmen, ein dem Iran ähnliches System innerhalb Afghanistans zu schaffen, in dem die Taliban als Teil eines Rechtsrates regieren, der über einem Parlament steht, dann ist es wahrscheinlich, dass wir einen gewissen Anschein einer Rückkehr zu den 1990er Jahren sehen werden, was die Scharia betrifft, die im Lande praktiziert wird.

Können wir mit unvorhergesehenen Entwicklungen rechnen, wenn die US-Truppen weg sind?

Es ist höchst unwahrscheinlich, dass die Vereinigten Staaten einen Deal mit den Taliban unterzeichnet haben, ohne zu ahnen, wie die nächsten Tage aussehen werden. Ich glaube, dass die regionalen Akteure ein Interesse daran haben, den aktuellen Konflikt zu eskalieren, so dass sich die Eliten aufgrund dieses Drucks gegen den aktuellen Präsidenten wenden oder einen Konsens finden könnten. Diejenigen im Inneren und jenseits der Grenzen Afghanistans wissen, dass ein totaler Bürgerkrieg schwerwiegende Folgen für das Land und die Region hätte. Sie werden auch wissen, dass ein totaler Sieg der Taliban unwahrscheinlich ist und für sie ein unwillkommenes Ergebnis wäre. Welche Entscheidung sie also auch immer treffen, sie werden diese Faktoren im Hinterkopf haben.

Wie werden sich ehemals bekannte Führer wie Hekmatyar oder Dostum an die neuen Machtverhältnisse gewöhnen? Wird das Abkommen über die Machtteilung, das sich auf die Zivilregierung zwischen Ghani und Abdullah bezieht, überleben?

Entweder die Taliban oder die regionalen Konfliktparteien könnten verschiedenen Führern für ihre Unterstützung eine Machtteilung versprechen. Dies könnte dadurch geschehen, dass ein interner Konsens geschaffen wird, Präsident Ghani zu stürzen oder bereitwillig Territorium an die Taliban abzugeben – in der Hoffnung, dass diese am Ende des kommenden Bürgerkriegs einen totalen Sieg erringen. Ursprünglich hatte es den Anschein, dass die Vereinigten Staaten mit der Bildung des Hohen Versöhnungsrates versuchen, eine Parallelstruktur zu schaffen, die einen möglichen Friedensvorschlag unterstützen könnte, falls die derzeitige Regierung sich weigert, dies zu tun, aber der jüngste Vorschlag des Gesandten Khalilzad, Präsident Ghani die Delegation zum Istanbuler Gipfel anführen zu lassen, scheint etwas anderes zu bedeuten. Es wird ein Punkt kommen, an dem Dr. Abdullah Abdullah und seine Partei erkennen, dass Präsident Ghani und sein Team für die Taliban inakzeptabel sind und sich von ihnen trennen müssen, um einen Weg zu einer möglichen Übergangsregierung zu finden. Die einzige Übergangsregierung oder künftige Ordnung, die für die Taliban akzeptabel ist, ist eine, die die derzeitige Regierung verdrängt, um ihren eigenen Kämpfern zu beweisen, dass kein Kompromiss zum Sieg über die USA und ihr „Marionettenregime“ eingegangen wurde.

Archivbild: 02.05.2021, Afghanistan, Camp Anthonic: Bei einer Übergabezeremonie von der US-Armee an die afghanische Nationalarmee im Camp Anthonic wird eine US-Flagge vom Mast heruntergelassen. (DPA)

Als die Nato in Afghanistan einmarschierte, erklärten sie den Kampf gegen den Terrorismus, den Kampf gegen den Drogenanbau und die Verbesserung der Bildung für beide Geschlechter als ihre Hauptziele. Was haben sie wirklich erreicht und was wird nach dem Abzug bleiben? Durch diese mühsame Mission wurde weder der Terrorismus besiegt noch Al-Kaida in der Region eliminiert. Die anderen politischen und demokratischen Werte, die in den letzten zwanzig Jahren gewonnen wurden, würden jedoch alle davon abhängen, wer an die Macht kommt und welches System eingeführt wird. Werden Al-Kaida und andere Gruppen wieder sichere Zufluchtsorte finden? Sie wurden zwar nicht vollständig ausgerottet, aber die Taliban werden einen Anreiz haben, dafür zu sorgen, dass ihre Bewegungen und Aktivitäten eingeschränkt werden, wenn sie nach dem Abzug der USA und dem Erreichen einer Friedensregelung weiterhin internationale Hilfe erhalten wollen. Sehen Sie Chancen, durch eine Verbesserung der wirtschaftlichen Situation in Afghanistan für einen dauerhaften Frieden zu sorgen? Und wenn, was wären die notwendigen Schritte, um dies zu erreichen? Das Fehlen von Grundbedürfnissen war schon immer ein starker Antrieb für Aufstände in fragilen Staaten. Es war dieses Versagen, in ganz Afghanistan gerecht zu regieren, das zur aktuellen Unbeliebtheit der Regierung und dem Mangel an positiven Gefühlen gegenüber der Regierung seitens der Landbevölkerung führte. Ihnen wurde ein Wandel durch Demokratie versprochen, aber sie sahen nur Ungerechtigkeit und Korruption. Obwohl die Taliban brutal vorgingen, hatten sie es geschafft, ihnen über zwei Jahrzehnte hinweg grundlegende Formen von Gerechtigkeit und Regierungsführung zu geben. Die Taliban hatten es nie nötig, in diesen Regionen perfekt zu regieren, alles, was sie brauchten, war, die Autorität der Regierung in diesen Regionen zu brechen und sie allmählich zu verdrängen. Dass die Taliban heute in der Lage sind, schnell Gebiete zu übernehmen, liegt nicht daran, dass die Menschen die Taliban unterstützen, sondern an deren Gleichgültigkeit gegenüber der gegenwärtigen Ordnung und vielleicht auch an ihrer Kampfmüdigkeit. Vielen Dank für das Gespräch!

TRT Deutsch