Türkische und deutsche Fahnen werden vor dem Reichstagsgebäude geschwenkt. (Others)
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Am 30. Oktober jährte sich zum 60. Mal das Anwerbeabkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Türkei. Millionen Menschen, die in der Erwartung eines temporären Aufenthalts zu Arbeitszwecken nach Deutschland gekommen waren, haben am Ende dauerhaft Fuß gefasst.

Bis die Nachkommen türkischer Einwanderer auch in der Politik Verantwortung übernahmen, dauerte es deutlich länger. Erst in den 1990er Jahren wurden die ersten türkischstämmigen Vertreter in überregionale Parlamente gewählt. Damit fiel dies in eine Zeit, in der auch Volksparteien noch betonten, Deutschland wäre „kein Einwanderungsland“, und noch bevor Hessens Ministerpräsident Roland Koch seine Unterschriftenaktion gegen eine Reform des Staatsbürgerschaftsrechts startete.

Derzeit stellen Türkischstämmige drei deutsche Abgeordnete zum Europäischen Parlament, 21 Bundestagsabgeordnete und mehr als 50 gewählte Parlamentarier in deutschen Landesparlamenten. Dazu kommen weitere gewählte Mitglieder von Kommunalparlamenten, Verbandsfunktionäre, Gewerkschafter, Elternvertreter und zahlreichen anderen Gremien. Türkische Einwanderer sind auch dort, wo aktiv das Gemeinwesen mitgestaltet wird, mittlerweile an vorderster Front mit dabei.

Einige bekannte Vertreterinnen und Vertreter stellt TRT Deutsch an dieser Stelle vor.

Ozan Ceyhun

Einer der ersten türkischen Einwanderer, die nicht nur in Deutschland, sondern auch in Europa Karriere machten, war der 1960 in Adana geborene Ozan Ceyhun – der Sohn des bekannten Schriftstellers und Soziologen Ceyhun Demirtaş.

Im Jahr 1981 emigrierte der studierte deutsche Philologe in Reaktion auf den Militärputsch erst nach Österreich und ein Jahr später nach Deutschland, wo er eine Ausbildung zum staatlich anerkannten Erzieher abschloss.

Ceyhuns politische Laufbahn begann 1986 bei den Grünen, für die er unter anderem Kreisrat in Groß-Gerau und Experte für Asyl- und Migrationspolitik auf Bundesebene war. Im Jahr 1997 wurde Ceyhun stellvertretender Vorsitzender des Interkulturellen Rates in Deutschland. Im Jahr 1998 wurde er als einer der ersten türkischstämmigen Abgeordneten für die Grünen ins Europäische Parlament gewählt – zwei Jahre später wechselte er zur SPD.

Anfang der 2000er warnte er erstmals vor den politischen Ambitionen der Gülen-Sekte, auch bekannt als FETÖ. Zudem unterstützte er den damaligen Bundeskanzler Gerhard Schröder bei dessen Bemühungen um eine Wiederwahl. Anfang der 2010er veröffentlichte er mit „Man wird nie Deutscher“ ein kritisches Buch über Mentalitäten in der Mehrheitsbevölkerung, die Integration und Partizipation von Einwanderern in Deutschland erschwerten.

Nach seiner politischen Karriere setzte Ceyhun seinen Weg in der Diplomatie fort: Seit Februar 2020 amtiert er als Botschafter der Republik Türkei in Österreich.

Aydan Özoğuz

Erst 1989 erlangte die 1967 in Hamburg geborene Aydan Özoğuz neben ihrer türkischen auch die deutsche Staatsangehörigkeit. Sechs Jahre vor ihrer Geburt waren ihre Eltern von Istanbul nach Hamburg gezogen, um dort ein Importunternehmen für Haselnüsse aufzubauen.

Aydan Özoğuz studierte Anglistik, Spanisch und Personalwirtschaft an der Universität Hamburg. Ihre erste politische Funktion war in dieser Zeit jene der Vorsitzenden der Türkischen Studentenvereinigung Hamburg. Von 1994 an war sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin im Bereich Integration für die Körber-Stiftung tätig.

Der mittlerweile im Bundeskanzleramt angelangte Olaf Scholz brachte Özoğuz in die Parteipolitik. Im Jahr 2001 kandidierte sie als Parteilose auf der SPD-Landesliste und schaffte auf Anhieb den Sprung in die Bürgerschaft. Nach ihrer Wiederwahl ins Landesparlament 2004 trat sie der SPD bei und wurde migrationspolitische Sprecherin der Bürgerschaftsfraktion. Im Jahr 2009 wurde Özoğuz erstmals in den Bundestag gewählt.

Im März 2010 ernannte die SPD-Bundestagsfraktion die damals 43-Jährige zu ihrer Integrationsbeauftragten. In dieser Funktion kritisierte sie unter anderem Versuche, die Deutsche Islamkonferenz zur Stigmatisierung der islamischen Community zu missbrauchen. Jahre später trug ihr eine kritische Anmerkung zum Begriff der „deutschen Leitkultur“ Pöbeleien aus den Reihen der AfD ein, deren damaliger Bundestagsfraktionschef Alexander Gauland forderte, sie „nach Anatolien zu entsorgen“.

Im Dezember 2011 wurde sie als erste türkischstämmige Frau in die Parteiführung der SPD gewählt, zudem gründete sie die Arbeitsgemeinschaft Migration und Vielfalt sowie den Arbeitskreis muslimischer Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten.

Mit ihrer Ernennung zur Beauftragten der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration im Rang einer Staatsministerin bei der Bundeskanzlerin im Kabinett Merkel III wurde Özoğuz auch zur ersten türkischstämmigen Frau in einem Amt auf Ministerebene. Ihr höchstes Staatsamt hat sie jedoch seit dem 26. Oktober 2021 inne – an jenem Tag wurde sie zur stellvertretenden Bundestagspräsidentin gewählt.

Gegenüber TRT Deutsch zeigt Aydan Özoğuz sich erfreut darüber, dass der „Anteil der Bundestagsabgeordneten mit einer Migrationsgeschichte im Deutschen Bundestag signifikant gestiegen ist“. Dass neben ihr als Bundestagsvizepräsidentin auch mit dem Grünen-Politiker Cem Özdemir ein Sohn türkischer Einwanderer Bundesminister werde, sei „60 Jahre nach Unterzeichnung des Arbeitnehmeranwerbeabkommens mit der Türkei […] eine gute Entwicklung“.

Die neue Generation der Abgeordneten sei hier sozialisiert und gut vernetzt, viele hätten bereits beachtliche Karrieren vorzuweisen und könnten so dazu beitragen, dass „im Parlament Migrationsthemen wie Repräsentanz, Teilhabe und Partizipation mehr Beachtung finden und gleichzeitig selbstverständlich gelebt werden“.

Serap Güler

Als erste muslimische Frau wurde im Dezember 2012 die aus einer Gastarbeiterfamilie aus Marl stammende Serap Güler in den Bundesvorstand der CDU gewählt. Der Vater der 1980 geborenen Güler war – wie auch jener des früheren NRW-Ministerpräsidenten Armin Laschet – Bergmann.

Serap Güler wurde auch von Laschet gefördert, der von 2005 bis 2010 Integrationsminister des Landes war und die Jungpolitikerin 2017 als Staatssekretärin in dieses Amt berief. In den Landtag war Güler erstmals 2012 als Listenkandidatin gewählt worden.

Seit ihrer ersten Wahl in den Bundesvorstand der CDU wurde Serap Güler bei bis dato jedem Folgeparteitag in ihrer Funktion bestätigt. Bei der Bundestagswahl im September 2021 gelang ihr über die Landesliste in NRW erstmals der Einzug in den Bundestag.

Politisch ging Güler früh auf Distanz zur Roland-Koch-Kampagne gegen die doppelte Staatsbürgerschaft. Weitere Schwerpunkte ihrer Arbeit sind die Sprachförderung vor der Einschulung und die Anerkennung ausländischer Berufsabschlüsse. Sie verteidigt den konfessionellen Religionsunterricht und ist auch als Befürworterin des Betreuungsgeldes und des Schutzes des ungeborenen Lebens in Erscheinung getreten.

Ihre Karriere in der CDU gilt als Ausdruck eines Wandels im Umgang der konservativen Volkspartei mit türkischen Einwanderern, der unter anderem auch einem veränderten Wahlverhalten der in früheren Jahren eindeutig der SPD zugeneigten Community geschuldet war.

Oğuzhan Yazıcı

Ein weiterer Sohn türkischer Gastarbeiter, der in der CDU Karriere macht, ist der ursprünglich in Hattingen geborene Oğuzhan Yazıcı. Nachdem die Familie nach Bremen gezogen war, absolvierte er dort die Schule und studierte Rechtswissenschaften in Marburg, Adelaide und Kiel.

Der verheiratete zweifache Vater, der mit seiner Familie im Bremer Stadtteil Findorff lebt, hat vor seiner politischen vor allem eine juristische Karriere gemacht. Zudem engagierte er sich früh sozial – unter anderem in den Bereichen Gewaltprävention, außergerichtliche Streitschlichtung und Täter-Opfer-Ausgleich.

Im Jahr 2010 trat er in Bremen der CDU bei. Seit 2012 ist er stellvertretender Kreisvorsitzender von Bremen Stadt und Landesvorsitzender des Deutsch-Türkisches Forums in seiner Partei, seit 2015 leitet er die Kommunalpolitische Vereinigung der CDU Bremen und ist Mitglied im Landesvorstand.

Dem Landtag gehört Yazıcı seit 2013 an. Er hatte 2011 den Einzug knapp verfehlt, kam jedoch als Nachrücker in die Bürgerschaft, nachdem Elisabeth Motschmann in die Bundespolitik gewechselt war. Bei den Wahlen im Jahr 2015 schaffte Yazıcı den Wiedereinzug über die Liste, wobei er die Zahl seiner Direktstimmen verdoppelte. Im Jahr 2019 schaffte er mit 3.234 Personenstimmen gar das fünftbeste Ergebnis auf der Gesamtliste der CDU.

Mittlerweile ist der Jurist unter anderem Fraktionssprecher für Recht, Justiz, Datenschutz und Informationsfreiheit sowie stellvertretender Vorsitzender des Rechtsausschusses und Sprecher für Petitionen.

Seit 2016 ist Yazıcı auch Landesvorsitzender des Türkischen Elternvereins in Bremen e. V. – auch auf Bundesebene arbeitet er bereits seit mehreren Jahren im Netzwerk Integration der CDU mit.

Der nach eigenen Angaben einzige muslimische Politiker in der CDU Bremen will nach eigenen Angaben auch Menschen, die sich offen als gläubig zu erkennen geben, für ein Engagement in der Politik gewinnen. Muslime, so Yazıcı, müssten „mehr Zugang zu den Parteien finden, um diese auch für religionspolitische Themen sensibler zu machen“.

Ceyhun fordert Wähler zur aktiven Einforderung ihrer Interessen auf

Zur Frage von TRT Deutsch, inwieweit die steigende Anzahl an gewählten türkischstämmigen Abgeordneten in deutschen Vertretungskörperschaften eine wachsende Partizipation türkischer Einwanderer an der Willensbildung im deutschen Gemeinwesen widerspiegelt, erklärte Ozan Ceyhun:

„Die Türkischstämmigen in Europa – mittlerweile sprechen wir von der 3. bzw. 4. Generation – sind ein integraler Bestandteil ihrer jeweiligen Gesellschaften und als solcher nehmen sie auch immer aktiver am politischen Leben teil. Das erkennt man nicht zuletzt an der zunehmenden Zahl der türkischstämmigen Abgeordneten in den jeweiligen Parlamenten.“

Insofern spiegele diese Entwicklung „natürlich […] auch den politischen Willensbildungsprozess der türkischstämmigen Wähler wider, denn ohne die Unterstützung dieser Wählergruppe würden die Chancen, ins Parlament gewählt zu werden, sinken“.

Allerdings sieht Ceyhun auch in vielen Bereichen Nachbesserungsbedarf und verliert auch kritische Worte, wenn es um das erfolgreiche Formulieren von Interessen und das Halten von Wahlversprechen vonseiten der Kandidaten geht. Hier seien auch deren Wähler selbst gefordert:

„Die andere Frage ist, in wie weit die Abgeordneten diese Interessen auch nach der Wahl vertreten. Hier ist das fortwährende Engagement der türkischstämmigen Wahlbevölkerung, insbesondere der Zivilgesellschaft gefragt, von den Abgeordneten aus ihrem Wahlkreis die gewünschte Politik einzufordern. Die pluralistische Demokratie lebt schließlich von der aktiven Partizipation ihrer Bürger – auch der Türkischstämmigen.“

TRT Deutsch