Afghanistan: Die geopolitische Debatte und die menschliche Tragödie
Nach 20 Jahren endet der NATO-Militäreinsatz in Afghanistan mit bislang rund drei Billionen Dollar Kriegskosten für die USA und dem Verlust unzähliger Menschenleben.
Archivbild. 04.07.2021, Afghanistan, Badakhshan: Soldaten in der Nähe der Front der einander gegenüberstehenden Taliban und der afghanischen Sicherheitskräfte an einer Straße. (DPA)

Angesichts des umfassenden und fast abrupten Abzugs der USA und weiterer NATO-Truppen, so auch der deutschen Bundeswehr, rückt die geopolitische Analyse dieses gepeinigten Landes und seiner vielen Völker wieder ins Zentrum. Historische Vergleiche mit früheren militärischen Niederlagen von den Briten bis zu den Sowjets werden gezogen. Doch jede Epoche verdient ihre eigene historische Beurteilung.

Das Schachbrett Afghanistan

Vom „Schachspiel“ in Zentralasien war in den letzten 40 Jahren neuerlich oft die Rede, wenn es um die Einflusssphären und deren Neuordnung in der Region ging. Eine Publikation des ehemaligen US-Sicherheitsberaters Zbiniew Brezezinski aus dem Jahr 1997 trägt den Titel „The Grand Chess-board“. Ein vielleicht zynischer, aber typischer Blick von außen. Was sich im Laufe der Jahrhunderte änderte, waren die Spieler – und das waren meistens mehr als zwei.

Es war die Zeit des „Great Game“, des Vermessens der britischen und russischen Gebiete, die der britische Schriftsteller Rudyard Kipling detailliert beschrieb. Zu diesem Zwecke installierte London Marionetten im Puffergebiet am Hindukusch, also dem schwer kontrollierbaren Afghanistan, um sie bei Bedarf wieder auszuwechseln. Großmachtpolitik per Fernsteuerung ist keine Erfindung unserer Zeit.

Anfang 1842 endete dieser britische Vorstoß nach Afghanistan in einem dramatischen Debakel und einem Massaker: 4500 Truppen und rund 12.000 Zivilisten unternahmen den Rückzug in Richtung Kabul. Augenzeugen zufolge ließen die afghanischen Stammeskrieger nur einen Engländer am Leben, damit er von den Gräueln zu Hause berichten möge. Einer der vielen Beinamen des Territorialstaats Afghanistan lautet nicht zu Unrecht „graveyard of the empires“, Friedhof der Imperien. Die sowjetische Armee verließ Anfang 1989 das Land, nachdem die Mujahedin, von den USA militärisch ausgerüstet und von Pakistan wie Saudi-Arabien ausgebildet, die Soldaten in die Knie gezwungen hatten. Der Abzug aus Afghanistan war in gewisser Hinsicht der Anfang vom Ende der UdSSR. Liest man die Protokolle der damaligen Beratungen in Moskau nach, so fühlt man sich frappant an die Gegenwart erinnert.

Die Taliban waren nie weg

Denn die Sorge ist groß, dass die Taliban, Vertreter eines radikalen Islams, das Land wieder unter ihre Kontrolle bringen. Die Taliban waren nie weg, der Krieg tobte all die letzten Jahrzehnte in den meisten Regionen des Landes. Die jeweilige afghanische Regierung hatte ihre Mühe, sich über Kabul hinaus zu positionieren. Die Tatsache, dass die US-Regierung bereits unter Donald Trump mit Unterhändlern der Taliban – deren Name im Arabischen die „Studierenden“ bedeutet – und an der afghanischen Regierung vorbei eine Neuordnung der politischen Verhältnisse vereinbarte, ließ das Risiko von Chaos und Vakuum wachsen. Denn es war kein Dialog, sondern eine Abfolge von Sitzungen ohne Lösung organisatorischer oder politischer Fragen.

Es ist ein ungeordneter Abzug, bei dem die NATO zwar ihr gesamtes Material mitnehmen möchte, doch das gelingt nicht und schafft teils absurde Bilder, wie den Verkauf von US-Ausrüstung im Basar. Bei allen Unterschiedlichkeiten in den Jahrhunderten der Invasionen, eine Konstante zeigt sich: Mit einfachen Mitteln vertreiben Milizionäre eine mächtige Armee, egal, wie überlegen sie sein mag. Die politische Arena ist nun dem Zufall überlassen. Die Folgen für die Menschen in Afghanistan sind wie immer in der Geschichte grausam.

Eventuell gelingt es jenen, die mit den Militärs als Übersetzer, Fahrer oder in anderen Bereichen zusammenarbeiteten, ein Visum im Land ihrer ehemaligen Arbeitgeber für sich und ihre Familien zu erhalten. Doch die Emigration aus Afghanistan, die zuletzt 2015/16 sehr stark war, nimmt angesichts der unklaren Verhältnisse deutlich zu.

Folgen für die Türkei

In der Türkei kommen derzeit fast im Tagesrhythmus Tausende Afghanen an. Auch wenn die Türkei kein Nachbarland ist – anders als dies mancher EU-Regierungschef sieht –, so ist sie doch am stärksten von dieser neuen Migration betroffen. Die türkische Regierung hat bereits zugesagt, den Flughafen von Kabul zu sichern, eventuell im Verbund mit dem NATO-Partner Ungarn. Erforderlich ist hierfür eine gewisse US-Unterstützung. Die türkischen Sicherheitskräfte haben Erfahrung mit dieser Aufgabe und könnten sie wohl auch unter noch schwierigeren Umständen übernehmen. Der Airport ist entscheidend für den Verbleib der Diplomaten wie auch der Hilfslieferungen.

In ein Vakuum nachrücken werden chinesische Vertreter, die aber mehr Handel treiben wollen als Kriege zu führen. Es geht hierbei auch um Seltene Erden und Lithium-Bergbau, der mit dem Aufstieg bestimmter Energieformen an Bedeutung gewinnt. Übrigens erstellten sowjetische Geologen zwischen 1979 und 1989 eine Bestandsaufnahme dieser Bodenschätze, die heute angesichts Rohstoffknappheit noch wichtiger sind. Afghanistan könnte zu einem interessanten Zwischenstück der Seidenstraße werden, die sich bis in die Türkei zieht.

Vielleicht wird das Datum vom 11. September 2021, Jahrestag der Terroranschläge in den USA und offizieller Tag des Abzugs, zu einem Wendepunkt. In einigen Jahrzehnten wird sich im Rückspiegel der Geschichte klarer offenbaren, in welche Richtung das eurasische Schachspiel geht. Den Menschen in Afghanistan bleibt nur die Hoffnung, nicht wieder das Schlachtfeld zu sein.

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