Thüringer Landtag / Photo: DPA (dpa)
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Weniger als ein Jahr vor der Landtagswahl sieht sich Bodo Ramelows rot-rot-grüne Minderheitsregierung in Thüringen immer stärker mit Mehrheiten aus der Opposition mit der AfD konfrontiert. Es ergebe sich die Frage, warum die CDU kein konstruktives Misstrauensvotum in Thüringen stelle, sagte der Erfurter Politologe André Brodocz am Freitag der Deutschen Presse-Agentur. „Auch der Ministerpräsident muss sich unter diesen Bedingungen fragen lassen, ob er nicht die Vertrauensfrage stellt“, sagte der Wissenschaftler. Ramelow habe im Parlament eine Mehrheit gegen sich.

Am Tag zuvor hatten CDU, AfD, FDP und Fraktionslose eine Absenkung der Grunderwerbssteuer von 6,5 Prozent auf 5 Prozent beschlossen - gegen den Willen der rot-rot-grünen Regierungskoalition. Ramelow sprach am Freitag im Deutschlandfunk von einer „Verrücktheit im Parlamentarismus“ und vom „schwärzesten Tag“ in seinem parlamentarischen Leben. „Das schadet am Ende dem Funktionieren der Demokratie sehr, was dort mittlerweile geschieht“, sagte der Experte Brodocz zu den Vorgängen im Thüringer Landtag.

CDU setzt mit Hilfe der AfD bereits zweites Gesetz durch

Ramelows Minderheitskoalition aus Linke, SPD und Grünen hat im Parlament keine Mehrheit - ihr fehlen vier Stimmen. Trotzdem gelang es ihr oft, welche zu organisieren - meist mit der CDU. Das Erfurter Modell einer Minderheitsregierung ohne festen Tolerierungspartner galt schon immer als wackelig. Inzwischen haben die Christdemokraten schon das zweite Gesetz mit Hilfe der AfD durchgedrückt. Diesmal mit großen Auswirkungen - etwa auf den Haushalt des Landes. Die Opposition senkte die Grunderwerbssteuer von 6,5 Prozent auf 5 Prozent. Der umstrittene thüringische AfD-Fraktionschef Björn Höcke feierte die Abstimmung als Erfolg. Sein Landesverband wird im Freistaat vom Verfassungsschutz als gesichert rechtsextrem eingestuft und beobachtet.

Parteien kritisieren das Agieren der Thüringer CDU

Die Thüringer CDU erntete für ihr Agieren heftige Kritik. „Die CDU reißt die Brandmauer nach rechts außen immer weiter ein“, sagte Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD). „(CDU-Chef) Friedrich Merz hat immer wieder gesagt, es gibt keine Zusammenarbeit mit der AfD. Heute hat man sich gemeinsam auf den Weg gemacht“, kritisierte der SPD-Vorsitzende Lars Klingbeil in der ARD. SPD-Generalsekretär Kevin Kühnert sieht ein Tabu gebrochen: „Wenn das in der CDU Schule macht, dann wird der Parlamentarismus nach dem heutigen Tag ein anderer sein. Demokraten dürfen die AfD niemals zum parlamentarischen Zünglein an der Waage machen.“

AfD-Fraktionschef Björn Höcke im Landtag von Thüringen. (DPA)

Prominente CDU-Bundespolitiker stellten sich jedoch auch einen Tag nach der Abstimmung hinter ihre Parteikollegen in Erfurt: CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann sagte der „Rheinischen Post“: „Wie andere Fraktionen sich dazu verhalten, darf für uns nicht Maßstab sein.“ Die stellvertretende CDU-Bundesvorsitzende Karin Prien wies Vorwürfe zurück, die politische Brandmauer zur AfD in Thüringen sei eingerissen worden.

Politologe: Zeit, die Vertrauensfrage zu stellen

Der Politologe Brodocz gab zu bedenken, immer die besondere politische Situation in Thüringen im Blick zu haben. Die CDU agiere in Thüringen aus einer Oppositionsrolle heraus „und ist offensichtlich in der Lage, zusammen mit der AfD Mehrheiten gegen die Minderheitsregierung herzustellen“, sagte er. Die Verfassung sehe für solche Fälle das konstruktive Misstrauensvotum vor.

„Die politische Stabilität unserer Demokratie beruht darauf, dass die Regierung eine stabile Mehrheit im Parlament hat“, erklärte der Wissenschaftler. Wenn es nun eine offensichtliche stabile Mehrheit in der Opposition gebe, „dann sieht unsere Demokratie vor, dass diejenigen, die die Mehrheit haben, auch die Verantwortung übernehmen zum Regieren“. Konsequenterweise müsste die CDU seiner Meinung nach den CDU-Landespartei- und Fraktionschef Mario Voigt als Ministerpräsidentenkandidaten nominieren und dann zur Abstimmung stellen. „Und in ihrer eigenen Logik würde das auch bedeuten: Darüber müsste sie nicht mit der AfD reden“, sagte Brodocz.

Ein solches Szenario gilt als unwahrscheinlich. Es erinnert zudem an die Wahl von Kurzzeit-Ministerpräsident Thomas Kemmerich am 5. Februar 2020. Der FDP-Politiker ließ sich damals zum Regierungschef wählen - von CDU, FDP und AfD. Das Ereignis hatte ein politisches Beben ausgelöst. Die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel hatte den Vorgang damals noch als «unverzeihlich» bezeichnet.

Rechtsextremismus-Experte Quent: Parteien fehlt Strategie im Umgang mit AfD

Der Magdeburger Rechtsextremismusexperte Matthias Quent warnte vor einer Normalisierung der AfD. „Die sogenannte ‚Brandmauer' ist taktische Verschiebemasse. Es fehlt den Parteien und der Gesellschaft eine Strategie des Umgangs mit der Partei, gerade angesichts der aktuellen Prognosen“, sagte Quent. Die AfD kommt in Umfragen inzwischen in den drei ostdeutschen Bundesländern Thüringen, Sachsen und Brandenburg auf Werte von mehr als 30 Prozent. In diesen Bundesländern werden kommendes Jahr neue Landtage gewählt.

In Thüringen, wo Björn Höcke die Geschicke des AfD-Landesverbandes lenkt, scheint die AfD schon jetzt so viel Macht zu haben wie in keinem anderen Bundesland: Im Landkreis Sonneberg stellt sie einen Landrat. In etwa einer Woche hat ein AfD-Kandidat Chancen, bei einer Stichwahl Oberbürgermeister von Nordhausen zu werden. Zwei Gesetze wurden in Thüringen bereits mit AfD-Stimmen verabschiedet. Die Senkung der Grunderwerbssteuer könnte dabei mit einem Volumen von 48 Millionen Euro tief in den geplanten Landeshaushalt für 2024 greifen.

Experte Brodocz sieht die AfD nach der Abstimmung im Landtag deutlich gestärkt. „Sie bleibt weiter im Mittelpunkt der öffentlichen Debatte - ohne, dass sie selbst etwas falsch gemacht hätte“, sagte er. Auch ihre politische Bedeutung sei durch die Verabschiedung des Gesetzes gestärkt. Sie können nun in Einzelfragen zusammen mit der CDU de facto regieren. Seiner Ansicht nach geraten damit auch mögliche CDU-geführte Landesregierungen, die sich von der AfD in irgendeiner Weise tolerieren lassen könnten, auf die Agenda - gerade mit Blick auf die Wahlen kommendes Jahr.

dpa