19.09.2021, Berlin: Christian Lindner, Parteivorsitzender der FDP, spricht beim Außerordentlichen Bundesparteitag der FDP im Estrel Hotel. (dpa)
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Christian Lindner warnt mit einer Eindringlichkeit vor der Linksfront, als stünden bolschewistische Horden kurz vor der Einnahme des Estrel-Hotels an der Berliner Sonnenallee. Dort hat sich am Sonntag der FDP-Bundesparteitag versammelt, um einen Wahlaufruf zu verabschieden - und um jene Gefahren abzuwehren, die Spitzenmann Lindner auf Deutschland zukommen sieht. Die Rhetorik der FDP ist kernig. Vom „rot-rot-grünen Klassenkampf“ ist warnend die Rede, von den „Sozialisten in der SPD“, vom „Schmusekurs mit Rotchina“. Rund 520 FDP-Delegierte hat Lindner für den Dreieinhalb-Stunden-Parteitag nach Berlin gerufen, um inhaltliche Vorfestlegungen für Koalitionsverhandlungen nach der Wahl zu formulieren. „Wir schließen aus: Steuererhöhungen, wir schließen aus: eine Aufweichung der Schuldenbremse, wir schließen aus: einen Linksruck in Deutschland“, sagt der FDP-Chef. So klar Lindner seine Ablehnung gegen alles Linke auf dem Parteitag auch ausspricht: In der Koalitionsfrage fährt er einen Kurs der taktischen Unschärfe. Die FDP will nach acht Jahren Opposition endlich wieder regieren, am liebsten unter einem Bundeskanzler Armin Laschet (CDU). Aber was, wenn die Union nicht stärkste Kraft wird? Hier beginnt die Unschärfe, die auch auf dem Parteitag keiner größeren Klarheit weicht. Lindners Standard-Antwort auf die heikle Frage nach einer Ampelkoalition mit SPD und Grünen unter einem Kanzler Olaf Scholz lautet: „Mir fehlt die Fantasie, welches Angebot mir Scholz für eine solche Koalition machen könnte.“ Hofft Lindner auf ein gutes Angebot für eine Ampel-Koalition? Das kann einerseits als Distanzierung verstanden werden - andererseits aber auch als Fingerzeig an SPD und Grüne, der FDP nach der Wahl eben ein ganz besonders unwiderstehliches Angebot zu unterbreiten - etwa den Posten des Bundesfinanzministers für Lindner. Ähnlich unscharf verhält es sich mit Lindners Wahlkampf-Mantra, dass die FDP keinen „Linksruck“ unterstützen werde. Klar, auch dies kommt als Distanzierung daher. Lindners Aussage könnte aber nach der Wahl genauso gut als Rechtfertigung für den Eintritt in eine Ampelkoalition herhalten, nach der Devise: Wir müssen Deutschland vor Rot-Grün-Rot bewahren. Lindners Uneindeutigkeit birgt Risiken. Der FDP-Chef spiele „ein gefährliches Spiel“, sagt der Politikprofessor Oskar Niedermayer von der Freien Universität Berlin der Nachrichtenagentur AFP. Lindner habe „von der Verunsicherung vieler CDU-Wähler profitiert, die sich dann der FDP zugewendet haben“, sagt Niedermayer. „Die große Mehrheit von denen will aber auf keinen Fall in eine Ampel rein und könnte sich kurzfristig doch noch für die Union entscheiden.“ Lindner konnte AfD-Skandal gut wegstecken In den kommenden Tagen wird es für Lindner also darum gehen, eine Abwanderung konservativer Wähler in Richtung Union verhindern und die in Umfragen erstarkte FDP heil über die Ziellinie zu bringen. Auf Erfolge kann Lindner tatsächlich verweisen: Der Aufstieg der FDP in den Umfragen zählt zu den erstaunlicheren Entwicklungen der an Überraschungen nicht armen letzten anderthalb Jahre. Nach dem Debakel um die Wahl des FDP-Manns Thomas Kemmerich zum Ministerpräsidenten von Thüringen Anfang 2020 mit AfD-Stimmen lag die FDP am Boden, Lindners Macht in der Partei wankte. Er habe dann aber viel Geschick bewiesen, die Partei in der Coronakrise neu zu profilieren, sagt der Parteienforscher Karl-Rudolf Korte von der Universität Duisburg. „Die FDP hat nach dem Thüringen-Desaster die Corona-Politik fundamental gut für sich genutzt, indem sie eine kooperative und konstruktive Oppositionspolitik betrieben hat", sagt Korte zu AFP. Mit seiner Forderung nach Zurückhaltung bei Grundrechts-Einschränkungen in der Pandemie habe Lindner seine Politik „in eine liberale Wertetradition der Freiheit eingebettet - das wird klar honoriert von der Wählerschaft“.

AFP