Im Streit um die Brexit-Sonderregeln für Nordirland droht Großbritannien der EU ultimativ mit einer Eskalation. Mit einer raschen Einigung wurde angesichts neuer Drohungen aus London am Donnerstag nicht gerechnet, zumal EU-Vertreter auf ihrer Position beharren. Auch ein am Morgen geführtes Telefonat der beiden Chef-Unterhändler brachte keine Ergebnisse. Die Gefahr, dass das mühsam ausgehandelte Brexit-Abkommen aufgekündigt wird, steigt.
Die Lage in der britischen Provinz sei eine Frage von Frieden und Sicherheit für das Vereinigte Königreich, sagte Außenministerin Liz Truss einer Mitteilung zufolge dem EU-Vizekommissionspräsidenten Maros Sefcovic in dem Gespräch. Wenn die EU keine Flexibilität zeige, um die Probleme zu lösen, „hätten wir als verantwortungsbewusste Regierung keine andere Wahl, als zu handeln“, sagte Truss weiter.
Sefcovic hingegen teilte im Anschluss mit, es sei sehr besorgniserregend, dass die britische Regierung erwäge, den Weg des einseitigen Handelns einzuschlagen. Das sei „nicht akzeptabel“ und würde das Vertrauen zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich untergraben.
Brexit-Abkommen könnte aufgekündigt werden
Zudem betonte er: Ein solches Vorgehen werde die Bedingungen untergraben, dass Nordirland weiterhin Zugang zum EU-Binnenmarkt habe. Damit macht Sefcovic klar, dass einseitige Maßnahmen nicht unbeantwortet bleiben würden. Im schlimmsten Fall könnte der Konflikt so weit eskalieren, dass am Ende auch das Brexit-Abkommen aufgekündigt würde, was den Handel zwischen Großbritannien und der EU in eine Krise stürzen dürfte.
Einem Bericht der Zeitung „Telegraph“ zufolge wollte Truss der EU eine Frist von 72 Stunden setzen. Wenn die EU sich dann nicht bewege, werde die Ministerin eine Gesetzesregelung vorbereiten, um das sogenannte Nordirland-Protokoll aufzuheben. In Brüssel hört man jedoch überall: Eine Neuverhandlung des Protokolls wird es nicht geben.
Das Nordirland-Protokoll aus dem Brexit-Vertrag soll Kontrollen an der Grenze zum EU-Mitglied Republik Irland verhindern. Im Gegenzug ist allerdings eine Zollgrenze zwischen Nordirland und dem Rest des Vereinigten Königreichs entstanden. Die britische Regierung und Anhänger der Union fürchten deshalb eine Entfremdung von London.
Coveney: EU will Einigung
Der irische Außenminister Simon Coveney sagte dem irischen Sender RTÉ, die EU wolle eine Einigung, die aber nicht „unter den Drohungen“ der britischen Regierung gelingen werde. „Die EU erwartet einfach, dass internationale Vereinbarungen eingehalten werden und ist bereit, bei der Umsetzung äußerst flexibel zu sein“, sagte der Minister.
Sollte Großbritannien das Protokoll aushebeln, droht ein Handelskrieg mit der EU. „Wenn das Vereinigte Königreich gegen internationales Recht verstößt, wenn es ein Protokoll untergräbt, das die Integrität des EU-Binnenmarkts schützen soll, dann kann die EU das natürlich nicht ignorieren“, sagte Coveney.
Ein Sprecher des britischen Premierministers Boris Johnson nannte die Position der EU „enttäuschend“. „Wir werden weiterhin sehen, welche Fortschritte, wenn überhaupt, gemacht werden können.“ Nach Einschätzung der britischen Generalstaatsanwältin Suella Braverman hat Johnson das Recht, das Nordirland-Protokoll in weiten Teilen aufzukündigen, wie die Zeitung „Times“ berichtete. Ein solcher Schritt sei legal, da die EU die Vereinbarung „unverhältnismäßig und unvernünftig“ umsetze. Braverman sitzt für Johnsons Konservative Partei im Parlament.
Britische und EU-Politiker trafen sich in Brüssel
Trotz all der Drohungen und Eskalation: Am Donnerstag gab es auch ein kleines Zeichen der Hoffnung. In Brüssel traf sich zum ersten Mal eine parlamentarische partnerschaftliche Versammlung von britischen und EU-Politikern. Nach dem Brexit sei zu oft über die Presse miteinander kommuniziert worden, sagte die französische EU-Abgeordnete Nathalie Loiseau. Dieser neue Dialog „bietet die Möglichkeit, die Brexit-Spinnweben wegzupusten.“
Der britische Abgeordnete Oliver Heald betonte, es sei sehr schade, wenn diese Gelegenheit nicht genutzt werde. „Niemand will eine Vertiefung der Probleme zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich.“
13 Mai 2022

Neue Drohungen: London steuert weiter auf Handelskrieg mit EU zu
Britische Drohungen werden konkreter: Der Kampf um Brexit-Regeln für Nordirland könnte einen Handelsstreit mit der EU nach sich ziehen. Das Vertrauen zwischen den beiden Seiten schwindet. Trotz harter Rhetorik gibt es ein kleines Hoffnungszeichen.
DPA
Ähnliche Nachrichten

Corona-Krise spaltet Europa: Italien fordert mehr deutsche Solidarität
Die Corona-Krise setzt Südeuropa unter Druck. Insbesondere Italien fordert mehr Hilfe aus Deutschland und kritisiert Berlins ablehnende Haltung, „Corona-Bonds“ freizugeben. Die fehlende Solidarität stelle „eine tödliche Gefahr für die EU“ dar.

Coronavirus: Britischer Premierminister Johnson auf Intensivstation verlegt
Trotz anfänglichem Optimismus hat sich Covid-19 auf den Gesundheitszustand des britischen Premierministers Johnson so stark ausgewirkt, dass er auf die Intensivstation verlegt werden musste. Der neue „de facto-Premierminister“ ist Außenminister Raab.

„Absolut unzureichend“ – Deutschland nimmt 50 minderjährige Flüchtlinge auf
Die Bundesregierung hat sich zur Aufnahme der ersten 50 minderjährigen Flüchtlinge aus Griechenland durchgerungen – für Kritiker ein „Alibihandeln“. Entgegen fester Zusagen wollen andere EU-Staaten keine Verantwortung mehr übernehmen.
Selbe Kategorie

Boris Johnson übernimmt Verantwortung für „Partygate“ – aber kein Rücktritt
Der britische Premier Boris Johnson will aus seinen Fehlern gelernt haben. Es habe bereits Veränderungen gegeben. Das merkte auch die interne Ermittlerin Sue Gray in ihrem „Partygate“-Bericht an. Von Rücktritt sprach der Premier nicht.

Vergewaltigungsverdacht: Keine Ermittlungen gegen französischen Minister
Trotz der gegen ihn gerichteten Vergewaltigungsvorwürfe wird die französische Justiz vorläufig nicht gegen Solidaritätsminister Abad ermitteln. Mehrere Frauenrechts-Organisationen hatten gegen dessen Ernennung protestiert und den Rücktritt gefordert.
Worüber möchten Sie mehr erfahren?
Beliebt

Rekordzahl: Weltweit über 45 Millionen Binnenflüchtlinge
Eine Rekordzahl von Menschen ist wegen Konflikten und Katastrophen auf der Flucht im eigenen Land. Das Schicksal derer, die vertrieben aber nicht über Grenzen geflüchtet sind, werde international zu wenig beachtet, erklärt eine Hilfsorganisation.