24.12.2020, Belgien, Brüssel: Europaflaggen wehen vor dem Sitz der EU-Kommission.  (dpa)
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Seit Jahrzehnten wird die EU als bürokratisch, langsam und undemokratisch gescholten – jetzt soll ein beispielloses Reformprojekt Veränderungen auf den Weg bringen. Politiker und Bürger begannen am Wochenende mit einer Plenarsitzung in Straßburg mit der Arbeit einer sogenannten Konferenz zur Zukunft Europas. Bis zum Frühjahr 2022 soll das Gremium konkrete Vorschläge machen. Ob und wie diese umgesetzt werden, entscheiden die EU-Staaten und das Europaparlament. Beide Institutionen sind aber uneins, wie weit Neuerungen gehen sollen. Zudem ist unsicher, ob Politiker und Bürger dasselbe meinen.

„Was funktioniert, was muss sich ändern? Wie können wir eine Union schaffen, die fit für die nächsten Jahrzehnte ist?“, fragte einer der Vorsitzenden der Konferenz, der belgische Europaabgeordnete Guy Verhofstadt. Ihm gehe es darum, wie die „europäischen Werte“ gewahrt, wie demokratische Entscheidungen beschleunigt und Vetos in der EU überwunden werden könnten, sagte der Liberale.

Was als vermeintlicher Schritt hin zum Bürger konzipiert ist, könnte so zum Einfallstor für zusätzliche Macht für Brüssel werden. Was Verhofstadt nämlich anspricht, ist die Tatsache, dass vor allem Entscheidungen in der Außen- und Steuerpolitik von den 27 EU-Staaten einstimmig getroffen werden. Jede Regierung hat also ein Vetorecht. Viele EU-Parlamentarier wollen dieses Prinzip überwinden. Insgesamt wollen sie mehr Einfluss des Parlaments als demokratisch gewählte Institution, auch bei der Besetzung der EU-Spitzenämter. Dies würde jedoch zwangsläufig mit einem Verlust der Mitsprache von Mitgliedstaaten einhergehen.

108 Abgeordnete und 108 Bürger

Bei der Wahl von EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen war das Parlament 2019 ausgebremst worden. Zuvor erschien es als ungewiss, ob einer der Spitzenkandidaten der größten Fraktionen bei der EU-Wahl, beispielsweise Manfred Weber (EVP) oder Frans Timmermans (SPE), in der Lage wäre, eine Mehrheit im Parlament auf sich zu vereinen. Von der Leyen versprach vor diesem Hintergrund die Reformdebatte und die Zukunftskonferenz. Feierlicher Start war schon am 9. Mai. Am Samstag tagte nun erstmals die sogenannte Plenarversammlung.

Ihr gehören jeweils 108 Abgeordnete des Europaparlaments und der Parlamente der EU-Staaten sowie 108 Bürgerinnen und Bürger an. Auch 54 Vertreter der Mitgliedsstaaten und drei der EU-Kommission sind in dem Gremium, zudem Vertreter weiterer EU-Institutionen. Komplett wird das Plenum erst bei der nächsten Sitzung am 22. und 23. Oktober sein.

Bei der mehr als fünfstündigen Eröffnung kamen aber bereits rund 150 Redner zu Wort. Viele Politiker beteuerten, wie wichtig ihnen die Beteiligung der Bürger wäre. Viele Bürger, die teils im Saal des Europaparlaments, teils online teilnahmen, nannten die für sie wichtigen Themen, darunter Klimaschutz, Migration, Arbeitsplätze, Wohlstand, freies Reisen oder Studienaustausch. Über eine Internetplattform können theoretisch alle Europäer Reformideen einspeisen.

Wie grundsätzlich die Erneuerung ausfällt, ist offen. Wird die Machtverteilung zwischen den EU-Institutionen angetastet, müssten möglicherweise die EU-Verträge geändert werden. Das scheuen einige EU-Staaten, weil die Ratifizierung teils Referenden nötig macht und der Ausgang unberechenbar wäre.

„Wir können das jetzige System nutzen“

Etwaige Reformen könnten wahrscheinlich im jetzigen rechtlichen Gefüge gemacht werden, sagte Europaministerin Ana Paula Zacarias für den derzeitigen EU-Ratsvorsitz Portugal. „Wir können das jetzige System nutzen.“

Ungarns Ministerpräsident Viktor Orban geht der Einfluss des Europaparlaments schon heute zu weit. Der rechtsnationale Regierungschef forderte am Samstag in Budapest ein Vetorecht für nationale Parlamente gegen gesetzgeberische Prozesse im EU-Parlament, wenn nationale Kompetenzen verletzt sein könnten. „Das EU-Parlament hat sich in Bezug auf Kriterien der europäischen Demokratie als Sackgasse erwiesen“, sagte Orban.

EU-Parlamentspräsident David Sassoli reagierte auf Twitter scharf: „Nur diejenigen, die die Demokratie nicht mögen, kommen auf die Idee, Parlamente zu demontieren.“ Das EU-Parlament hat Orban erzürnt, weil es 2018 für ein Rechtsstaatsverfahren nach Artikel 7 der EU-Verträge gegen Ungarn stimmte. Dieses wird eingeleitet, wenn ein Land EU-Grundwerte gefährdet.

Die Zusammensetzung des EU-Parlaments erfolgt nach einem zuvor festgelegten Schlüssel zwischen den Mitgliedstaaten. Während ein Abgeordneter aus Malta auf etwa 68.000 Bürger kommt, vertritt ein französischer EU-Abgeordneter etwas mehr als 874.000 Einwohner.

dpa