24.04.2021, Myanmar, Yangon: Anti-Putsch-Demonstranten halten ein Plakat mit dem Bild der festgesetzten Regierungschefin Aung San Suu Kyi. (dpa)
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Wenn Oliver Esser von jener Nacht erzählt, als das Militär in Myanmar gegen die demokratisch gewählte Regierung von Aung San Suu Kyi geputscht hat, ist ihm der Schock noch anzumerken. Der Deutsche spricht von der „Hölle“ und „totaler Fassungslosigkeit“, wenn auf die nun schon seit drei Monaten andauernde Schreckensherrschaft der neuen Junta zurückblickt. Schon seit 26 Jahren lebt der im nordrhein-westfälischen Hürtgenwald geborene Koch, Hotelier und Umweltschützer im früheren Birma und kennt das Land und dessen komplizierte politische Verhältnisse wie seine Westentasche.
Seit vor drei Monaten seine glückliche Welt zwischen dem herrlichen Ngapali Beach im Westen und der früheren Hauptstadt Yangon wie ein Kartenhaus zusammenfiel, kämpft er an der Seite der Demonstranten für die Rückkehr zur Demokratie. „Dieser Absturz ins Grauen in Myanmar seit dem 1. Februar 2021 ist wie das größte Unglück, das einer Familie passieren kann - und die Leute hier sind wie meine Familie“, sagt der 59-Jährige. „Alles, was über Jahre aufgebaut wurde - Hoffnungen, Ziele, die ganze Zukunft der Menschen - wird durch eine kleine Gruppe geldgieriger Terroristen zerstört. Das schmerzt.“
750 Menschen getötet

In dem südostasiatischen Land haben Generäle die Macht übernommen und die bei großen Teilen des Volkes beliebte Regierungschefin Aung San Suu Kyi unter Hausarrest gestellt. Seit dem Umsturz gehen Militär und Polizei mit brutaler Härte gegen jeden Widerstand vor. Mehr als 750 Menschen sind Schätzungen zufolge bereits getötet worden, Tausende sitzen in Haft.
Erst vor rund zehn Jahren waren nach jahrzehntelanger Diktatur und Abschottung zaghafte demokratische Reformen auf den Weg gebracht worden. Als Hauptauslöser des Putsches gilt die Parlamentswahl vom November, die Suu Kyi mit klarem Vorsprung gewonnen hatte. Beobachter glauben, dass die Friedensnobelpreisträgerin dem Militär wegen ihrer großen Popularität zuletzt zu gefährlich geworden sei.
Esser erzählt von den Wochen vor dem Putsch. Anfang des Jahres seien die Corona-Zahlen stark zurückgegangen. Auch die Impfkampagne sei mit großen Schritten vorangeschritten.
Das Leben wurde langsam wieder normal, Hotels und Restaurants öffneten. „Nach zwölf Monaten ohne Einnahmen tat es so gut, am 15. Januar endlich die Eröffnungszulassung für unser Hotel zu bekommen“, erzählt der abenteuerlustige Koch, der mit der Burmesin Khin Khet Khet Kaing verheiratet ist und mit ihr einen Sohn hat. „Im Januar hatten wir noch Freude und große Hoffnung auf eine gute Zukunft.“
„Totaler Schock“
Dann kam der 1. Februar. „Um 5.00 Uhr morgens weckte uns ein Anruf aus der Hauptstadt“, erinnert sich Esser. So habe er von dem Putsch erfahren. „Alle hatten seit den Wahlen Angst davor - aber es war trotzdem der totale Schock.“ Noch kurz zuvor habe der neue Junta-Chef Min Aung Hlaing gesagt, dass die Generäle niemals putschen würden, das sei illegal. „Sie haben wieder einmal nur gelogen und betrogen.“
Als kurz darauf die Proteste gegen die Junta losbrachen, waren Esser und andere Köche zunächst an vorderster Front dabei. Dann aber gab es das erste Todesopfer in der Hauptstadt Naypyidaw. Eine Studentin wurde per Kopfschuss niedergestreckt. Danach habe er versucht, die Köche aus der Schusslinie zu halten und sie ermutigt, für die Demonstranten zu kochen, „Milchreis, Currys und vieles mehr“. Aber dann sei die Lage zunehmend eskaliert. „Es wurde immer schwerer, Essen in Mengen zu kochen und zu verteilen, denn wir mussten uns immer schnell wieder in Sicherheit bringen, um nicht erschossen oder festgenommen zu werden.“
Die Angst vor einer Festnahme sei seit Wochen ein ständiger Begleiter, sagt er. „Jeder hat Angst, vor allem davor, dass es dann wirklich passiert und sie dich holen kommen.“ Wie viele andere wechsle er deshalb immer wieder den Schlafplatz.
Jederzeit droht Haft
Schon seit Wochen wohnt Esser mit seiner Familie nicht mehr in der eigenen Wohnung. „Das ganze Haus bis hoch in den fünften Stock wurde am 28. Februar mit irgendwelchen chemischen Waffen begast - das war ein totaler Schock für mich, die Augen taten weh, die Haut brannte wie Feuer, ich hatte stundenlang Kopfschmerzen - und das alles, weil 50 friedliche Demonstranten in unserer kleinen Straße waren.“ Die Realität 2021 ist ein krasser Gegensatz zu den Zeiten, als Esser einst Wolfgang Rademann bei der Organisation der Dreharbeiten zum „Traumschiff Myanmar“ half.
Aber Esser gibt sich kämpferisch. Er sei sich bewusst, dass er jederzeit inhaftiert werden könnte, sagt er. „Aber man kann nicht gehört werden, wenn man nicht spricht, und man kann nicht ans Ziel kommen, wenn man den ersten Schritt nicht macht.“ Und wenn es wirklich passieren sollte, „dann kann ich mit fast 60 Jahren auch im Gefängnis Leute zu Köchen ausbilden“.
Alle seien fassungslos über die Machtübernahme – „fassungslos, dass die Armee die Gewaltschraube jeden Tag noch höher dreht“. Wenn er sein Leben in der Wahlheimat vor dem Putsch mit dem von jetzt vergleichen müsste, wie würde er das beschreiben? Esser überlegt nicht lange: „Von totalem Glücksgefühl und Hoffnung zur dunkelsten Hölle.“

Eine solche hatten Volksgruppen wie die muslimischen Rohingya in Myanmar bereits vor dem Putsch seit Jahr und Tag erlebt, ohne dass die Präsidentin Anstoß daran genommen hätte. Für sie dürfte die Fallhöhe immerhin entsprechend geringer gewesen sein.

dpa