(Symbolfoto) (dpa)
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Laut Experten könnte die Zahl der Coronavirus-Todesfälle in Deutschland bereits jetzt viel größer sein als offiziell angenommen. Das liege unter anderem an den Testmethoden. Weiterhin kritisch ist die Versorgung des medizinischen Personals mit Schutzkleidung. Lebenswichtige Operationen werden verschoben, um Ressourcen für Covid-19-Patienten freizuhalten.

Die Todesrate ist wesentlich anhängig von der Testhäufigkeit. Wenn verhältnismäßig wenig getestet wird, steigt die Rate. Wie der „Guardian“ berichtet, testet Italien mittlerweile auch vermehrt unklare Todesfälle auf Sars-CoV-2. In Deutschland sei das nicht die Regel. Daher bleiben möglicherweise viele Todesfälle im Zusammenhang mit einer Coronavirus-Infizierung unentdeckt.

Darüber hinaus sind die Labore derzeit bundesweit ausgelastet. Die Kapazitäten reichen nicht aus, um beliebig viele Personen zu testen. Teilweise fehlen Pipettenspitzen und Extrations-Kits, wie Jens Heidrich, Leiter eines privaten Hamburger Analyse-Labors, der „Tagesschau“ berichtete.

Wie viele Tests täglich durchgeführt werden, ist nicht bekannt. Es herrscht eine Diskrepanz zwischen den Angaben verschiedener Institutionen. Laut der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) können landesweit täglich 12.000 Tests durchgeführt werden. Der Präsident des Robert Koch Instituts, Lothar Wieler, spricht von 160.000 Tests wöchentlich. Das Bundesgesundheitsministerium geht von 200.000 Tests pro Woche aus.

In Deutschland gibt es derzeit 48.582 registrierte Coronavirus-Infektionen und 325 Todesfälle (Stand: 28.03.).

In Deutschland werden Verhältnisse wie in Italien erwartet

Wieler geht zudem auf lange Sicht davon aus, dass in Deutschland bald Verhältnisse wie in Italien herrschen werden, wo bereits 86.498 Personen infiziert wurden und 9134 starben (Stand: 28.03.). Den Medizinern entgingen immer mehr Fälle, sagt Wieler gegenüber dem „Guardian“. Bei vielen aktuell Erkrankten ist zudem der Ausgang der Krankheit ungewiss.

Möglich sind nach aktuellen Erkenntnissen auch Folgeschäden - trotz Genesung. Virologin Prof. Melanie Brinkmann erklärte am Donnerstag bei Markus Lanz: „Das Virus zerstört Zellen, indem es sich in den Zellen vermehrt. Es gibt erste Hinweise, dass es nachhaltig zu Schäden kommt, zu Narbenbildung in der Lunge. Das kann man jetzt noch nicht genau beurteilen.“ Man müsse nun nach Dauerschäden schauen.

SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach schätzte in der gleichen Sendung, dass es mindestens eineinhalb Jahre dauern könnte, bis Normalbetrieb in Krankenhäusern herrscht. In vielen Kliniken ist das Personal überarbeitet. Ärzte und Pflegekräfte arbeiten am Limit.

Krankenhauspersonal überarbeitet und überfordert

Das Krankenhauspersonal ist im Dauereinsatz - obwohl Deutschland bisher vergleichsweise wenig offizielle Covid-19-Fälle registriert hat. Die Situation dringt jedoch nicht immer mit aller Deutlichkeit nach außen, wie eine anonyme Krankenschwester aus einer Klinik in Nordrhein-Westfalen im Gespräch mit TRT Deutsch erzählt. Man wolle sich mit Informationen zurückhalten, um keine Panik zu schüren. Sie „mache aktuell Zeitarbeit“ und wolle sich daher nicht negativ über das Krankenhaus äußern, in dem sie tätig sei. Auch wollte die in einer Intensivstation tätige Anästhesie-Assistentin nichts über mögliche Falschregistrierung von Patienten und Todesopfern verraten.

Die Umstände seien zwar bereits seit Jahren unmöglich, die jetzige Lage übertreffe aber alles Vorherige. Das sagt Jana Langer in einem Bericht von „Deutschlandfunk Kultur“. Sie ist Krankenschwester an einer Universitätsklinik in Baden-Württemberg. Um bessere Bedingungen für Pflegekräfte und für Patienten durchzusetzen, wandte sie sich vor einigen Jahren an Bundeskanzlerin Angela Merkel und ans Gesundheitsministerium. „Wir sind vom Grundstock her schon schlecht bezahlt, jetzt wird uns wirklich unheimlich viel abverlangt, auch dass wir unheimlich flexibel sind.“ Sie wünsche sich im Gegenzug für ihre 12-Stunden-Schichten zumindest „Kleinigkeiten“ wie „kostenloses Essen“ oder „kostenlos parken“. Beifallklatschen allein genüge nicht.

Mangel an Schutzkleidung in Kliniken, Pflegeheimen und der Behindertenhilfe

Verdi Baden-Württemberg rief inzwischen dazu auf, mehr Material zur Hygiene und Schutzausrüstung zur Verfügung zu stellen. In Kliniken, im Rettungsdienst, in Pflegeheimen und der Behindertenhilfe fehlten zum Beispiel Schutzmasken. Landesweit fehlen Millionen solcher Masken und Schutzanzüge.

Den Mangel bestätigt auch Allgemeinmediziner Thomas Assmann gegenüber der „Bild“. Den Ärzten bereitet demnach vor allem die Ausstattung mit Schutzkleidung Sorge. „Wenn das so weitergeht, sind wir Anfang April leer.“ Die Praxis könne dann keine Dienste mehr anbieten. Vielen anderen Praxen gehe es genauso. Die Regierung sei in der Pflicht, das Gesundheitssystem massiv aufzurüsten.

Ähnliches äußert sich Allgemeinärztin Margit Inacker, die eine Praxis im brandenburgischen Kleinmachnow führt. Demnach hat die Politik den Katastrophenschutz vernachlässigt. Schutzmasken seien auch bei ihr kaum mehr vorhanden. Das zwinge sie zu unüblichen Methoden: „Die Nasenabstriche nehmen die Patienten bei uns selbst ab, stellen sich vor die Tür. Ich zeige ihnen per Handy durch die Scheibe, wie es geht.“

Der Notstand im Gesundheitssystem gefährdet darüber hinaus Schwerkranke, die auf lebensnotwendige Untersuchungen und Operationen angewiesen sind. ARD berichtete am Donnerstag in einer Extraausgabe über Krebspatienten, deren Behandlung ausgesetzt wird.

Martin Schuler vom Tumorzentrum der Uniklinik Essen erzählt, dass er die Kapazitäten für eventuelle Corona-Fälle freihalten müsse und daher Krebspatienten abweise. Dies empfinde er als ein „Dilemma“.

Der renommierte Krebsforscher Andreas du Bois von den Kliniken Essen-Mitte kritisiert: „Ein Aufschieben von Therapien oder gar Unterbrechung von laufenden Therapien verschlechtert die Prognose mitunter so sehr, dass die Patientin wegen dem Krebs stirbt. Und das darf auf keinen Fall so sein.“

TRT Deutsch