Symbolbild: Justitia hält eine Waage in der Hand. (dpa)
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Vor dem Landgericht in Itzehoe in Schleswig-Holstein beginnt am Donnerstag ein Prozess gegen eine mutmaßliche NS-Täterin. Der 96-jährigen ehemaligen Sekretärin des früheren Konzentrations- und Vernichtungslagers Stutthof wird in der Anklageschrift Beihilfe zum Mord in mehr als elftausend Fällen vorgeworfen. Dazu kommt Beihilfe zu versuchtem Mord an Gefangenen in sieben Fällen während ihrer Dienstzeit in den Jahren 1943 bis 1945.

In den vergangenen Jahren endeten in Deutschland bereits vier Prozesse gegen ehemalige Mitglieder von Lagermannschaften der nationalsozialistischen Vernichtungslager Sobibor, Stutthof und Auschwitz mit Verurteilungen. Ein weiterer NS-Prozess wird im Oktober am Landgericht Neuruppin in Brandenburg beginnen. Außerdem laufen noch Ermittlungen gegen weitere Beschuldigte. Der Prozess in Itzehoe ist aber der erste in jüngster Zeit, der sich gegen eine Frau richtet.

Massentod durch Krankheiten und Entkräftung

Laut Staatsanwaltschaft arbeitete F. damals als Stenotypistin und Schreibkraft für den Kommandanten des Lagers bei Danzig, in dem die SS im Zweiten Weltkrieg mehr als hunderttausend Menschen unter erbärmlichen Bedingungen einsperrte, darunter viele Juden. Etwa 65.000 Gefangene starben nach Erkenntnissen von Historikern.

Stutthof war berüchtigt für die absichtlich völlig unzureichende Versorgung der Gefangenen sowie die von der SS bewusst erzeugten lebensfeindlichen Bedingungen. Die meisten Gefangenen starben an Krankheiten und Entkräftung, dazu kamen Folter sowie unmenschliche Zwangs- und Sklavenarbeit. Es gab jedoch auch eine Gaskammer und eine getarnte Genickschussanlage für gezielte Massentötungen.

Nach Einschätzung der Itzehoer Staatsanwaltschaft entwickelte sich Stutthof in der für die Anklage maßgeblichen Zeitspanne zu einem regelrechten Vernichtungslager, das kein Insasse überleben sollte. Vor diesem Hintergrund werde F. zur Last gelegt, „den Verantwortlichen des Lagers bei der systematischen Tötung von jüdischen Gefangenen, polnischen Partisanen und sowjetrussischen Kriegsgefangenen Hilfe geleistet zu haben“, erklärte die Behörde.

Verhandlungen vor Jugendkammer

Der Strafprozess, an dem sich wie in früheren Verfahren wieder zahlreiche Nebenkläger aus dem Ausland beteiligen, läuft vor einer Jugendkammer. Die Angeklagte war zur Tatzeit 18 bis 19 Jahre alt und gilt daher als Heranwachsende. Auch das ist ein Umstand, der aus anderen ähnlichen Prozessen der vergangenen Jahre bekannt ist. Für den Prozess sind Verhandlungen bis Juni 2022 angesetzt.

In den vergangenen Jahren gab es in Deutschland noch einmal eine Reihe von Anklagen und Prozessen gegen ehemalige Angehörige der Wach- und Verwaltungsmannschaften von verschiedenen Todes- und Konzentrationslagern. Zuletzt verurteilte das Landgericht in Hamburg vor etwas mehr als einem Jahr im Juli 2020 einen 93-jährigen früheren Stutthof-Wachmann wegen Beihilfe zum Mord in 5232 Fällen zu einer Jugendhaft von zwei Jahren auf Bewährung.

Am 7. Oktober soll vor dem Landgericht in Neuruppin zudem der Prozess gegen einen mutmaßlichen früheren Wachmann des Konzentrationslagers Sachsenhausen beginnen. Außerdem laufen noch mehrere Ermittlungen gegen Verdächtige. In einigen Fällen gab es zuletzt außerdem Anklagen, die aufgrund von gesundheitlichen Problemen der Beschuldigten letztlich nicht zu Prozessen führten.

Rolle von Frauen bei NS-Verbrechen wenig beleuchtet

Anklagen oder Verfahren gegen Frauen waren in diesem aktuellen Abschnitt der Strafverfolgung bislang aber nicht darunter. Laut Historikern ist die Beteiligung von Frauen an NS-Verbrechen seit jeher ein vergleichsweise wenig beleuchtetes Kapitel, wobei diese etwa als Aufseherinnen durchaus in Konzentrationslagern eingesetzt waren. Zudem arbeiteten sie auch in der Verwaltung von NS-Behörden, wenngleich nicht an verantwortlichen Stellen.

Verursacht wurde der Anstieg der Zahl von NS-Prozessen in den vergangenen Jahren durch eine geänderte juristische Sichtweise. Früher galt der Nachweis einer direkten persönlichen Beteiligung an Tötungen als Bedingung für eine Strafverfolgung. In jüngerer Zeit setzte sich eine alternative Rechtsprechung durch. Danach sind bereits rein unterstützende Tätigkeiten im Rahmen einer auf einen systematischen Massenmord ausgerichteten Lagerlogistik als Mordbeihilfe zu werten und können entsprechend geahndet werden.

AFP