Eine junge obdachlose Frau sitzt in Berlin mit ihren zwei Hunden am Straßenrand. (dpa)
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Durch die Corona-Pandemie sind Kinder und Jugendliche nach Beobachtung der Stiftung „Off Road Kids“ verstärkt von Obdachlosigkeit bedroht. „Wo es brodelt in Familien, kann es im Lockdown zum totalen Zerwürfnis kommen. Das endet dann schon mal mit dem Rausschmiss“, sagt Markus Seidel, Vorstandssprecher der Stiftung. Betroffen seien vor allem Jugendliche und Heranwachsende ab 17 Jahre. Das vergangene Jahr habe bei der bundesweit tätigen Hilfsorganisation alle traurigen Rekorde gebrochen: „Wir haben 2474 Hilferufe von verzweifelten Straßenkindern und jungen Menschen erhalten, die in Deutschland akut von Obdachlosigkeit bedroht sind. Das waren doppelt so viele wie im Vorjahr“, so Seidel im Gespräch mit der Nachrichtenagentur dpa.

Weil in Corona-Zeiten keine Streetworker unterwegs sind, versucht die Stiftung, bedrohte Kinder durch das bundesweite Online-Hilfsangebot „sofahopper.de“ zu erreichen. „Ein trauriger Volltreffer“, wie Seidel bemerkt. 40 Prozent der hilfesuchenden Kids stammten demnach aus den Ballungsräumen Berlin, Dortmund, Frankfurt, Hamburg und Köln, wo die Stiftung Streetwork-Standorte betreibt. „Sie konnten dann direkt vor Ort beraten werden.“

Die gestiegene Nachfrage nach Hilfe habe aber nicht unbedingt mit mehr Kindern und Jugendlichen in Not zu tun. „Familienzerwürfnisse werden nur offenbarer – junge Menschen trauen sich, ihr Schicksal in die Hand zu nehmen“, so Seidel. Auch weil „sofahopper.de“ bekannter geworden sei. Als „Sofahopper“ bezeichnet er junge Leute, die in ihrer Not bei mehr oder weniger guten Bekannten vorläufig auf dem Sofa unterkommen.

„Was machen diese jungen Menschen dann? Sie sind verzweifelt – genau wie der Gastgeber. Also gehen sie ins Internet und googeln nach Hilfsangeboten“, weiß Seidel. Bei Eingabe „Bin obdachlos, was tun?“ erscheint als Treffer das Hilfsangebot von „sofahopper.de“. Vor Corona nutzte etwa ein Drittel der Hilfesuchenden das seit knapp drei Jahren existierende Angebot. Alle anderen wurden über die klassische Streetwork der „Off Road Kids“-Stiftung erreicht. Im ersten Corona-Jahr waren zwei Drittel der Unterbringungen auf diese Art von digitalisierter Sozialarbeit zurückzuführen.

Verzweifelte junge Menschen melden sich online

„Corona hat die Digitalisierung unserer Arbeit massiv beschleunigt“, sagt Seidel. Bisher sei es so, dass junge Menschen, die zu Hause rausgeflogen, zunächst mal in ihrem Heimatort umhergeirrt und dann Richtung Großstädte gezogen seien, um sich dort der Obdachlosenszene anzuschließen. „Über Internet und Social Media kommen wir früher an diese verzweifelten jungen Menschen ran.“ Damit würden auch die Chancen steigen, jemandem wieder auf die Beine zu helfen. „Die, die sich online melden, sind meist noch am Ort, woher sie stammen.“ Ob vorübergehende Unterbringung bei den Großeltern oder der Tante – das soziale Auffangsystem sei noch existent.

Corona habe aber nicht nur negative Folgen: „Viele Familien haben sich sicher auch gefunden in der Krise, weil sie viel Zeit füreinander hatten“, schätzt Seidel. Ob Zerwürfnis, Vernachlässigung, Misshandlung oder Missbrauch – nicht nur ärmere Kinder verlassen ihr Zuhause. „Das geht kreuz und quer durch alle gesellschaftlichen Schichten. Aber räumliche Enge wirkt natürlich als Katalysator.“

Die Hilfsorganisation mit Stiftungssitz München wurde 1993 im südbadischen Bad Dürrheim von dem Journalisten und Buchautoren Markus Seidel gegründet. Ziel: Not leidenden jungen Menschen langfristig helfen – von der Schulausbildung über das Besorgen eines Jobs bis hin zur Wohnmöglichkeit. „Off Road Kids“-Sozialarbeiter hätten bislang 7100 Betroffene bis 27 Jahre vor Obdachlosigkeit bewahrt. Nach einer früheren Erhebung des Deutschen Jugendinstituts haben in Deutschland etwa 37.000 junge Menschen (bis 26 Jahre) keinen festen Wohnsitz.

dpa