Trauer in Frankreich: Altpräsident Giscard d'Estaing ist tot (dpa)
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Vor fast 40 Jahren verließ er die Macht. Seitdem hatten die Franzosen ihren früheren Präsidenten Valéry Giscard d'Estaing ein wenig vergessen. Der Zentrumspolitiker brachte in den unruhigen 1970-er Jahren Reformen wie die Lockerung der Abtreibungsgesetze oder die Senkung des Wahlalters auf 18 Jahre auf den Weg. Der Absolvent der Eliteschmiede ENA kämpfte zugleich für die Einigung Europas und stärkte die deutsch-französische Freundschaft. 2003 erhielt er für seine europäischen Verdienste den Karlspreis der Stadt Aachen. Am Mittwoch starb der Altpräsident in seinem Haus im zentralfranzösischen Département Loir-et-Cher an den Folgen einer Covid-19-Erkrankung. Wenn er auf seine Amtszeit von 1974 bis 1981 zurückblickte, sprach VGE - wie er in seiner Heimat oft genannt wird - von einem „Goldenen Zeitalter“ zwischen Frankreich und Deutschland. Mit Bundeskanzler Helmut Schmidt konzipierte er das Europäische Währungssystem, den Rahmen für die währungspolitische Zusammenarbeit der Partnerländer. Daraus entwickelte sich der Euro. Der hochgewachsene Franzose mit dem aristokratischen Auftreten gehörte zu den Weltpolitikern, die in Schmidts Privathaus am Neubergerweg im Hamburg-Langenhorn eingeladen wurden. Beide zogen auf internationalem Parkett am selben Strang.

Sozialisten bezeichneten ihn ironisch als „alten jungen Mann“

So standen der Chef der Atommacht Frankreich und der kantige SPD-Kanzler für die Gründung der Gipfeltreffen der großen Wirtschaftsmächte. Zunächst traf man sich im Format der sogenannten G6: Auf Schloss Rambouillet bei Paris kamen die Staats- und Regierungschefs aus Deutschland, Frankreich, Italien, Japan, Großbritannien und den USA erstmals 1975 zusammen. Giscard wurde am 2. Februar 1926 in Koblenz im damals französisch besetzten Rheinland geboren. Er war Wirtschafts- und Finanzminister, bevor er nach dem Tod von Präsident Georges Pompidou im Alter von 48 Jahren ins höchste Staatsamt gewählt wurde. Damals setzte er sich nur mit knapper Mehrheit gegen seinen Widersacher François Mitterrand durch. Der Sozialist bezeichnete seinen Rivalen aus großbürgerlichem Haus ironisch als „alten jungen Mann“. Als Präsident setzte Giscard in der unruhigen Zeit nach der Revolte von 1968 weitreichende gesellschaftliche Reformen durch. So brachte er ein Gesetz zur Scheidung „im gegenseitigen Einvernehmen“ auf den Weg. Die Todesstrafe wurde aber immer noch vollstreckt. 1977 war Hamida Djandoubi der letzte Häftling, der auf der Guillotine starb. Er habe Frankreich modernisieren wollen, „ohne mit seiner Vergangenheit zu brechen“, bilanzierte der liberale Politiker einmal. Mit seinen geschliffenen Manieren und einer Vorliebe für die Jagd wirkte er gelegentlich sehr weit von seinen Mitbürgern entfernt. „Er hat die politische Kommunikation revolutioniert, ist aber paradoxerweise damit gescheitert, von den Franzosen geliebt zu werden“, bilanzierte „Le Parisien“. Die Zeitung erinnerte daran, wie er zu Weihnachten Müllmänner zum Frühstück in den Élyséepalast einlud.

Affäre um ein Diamantengeschenk schadet Ansehen

Zum Ende seiner Amtszeit litt Giscards Popularität - unter anderem wegen einer Affäre um ein Diamantengeschenk des zentralafrikanischen Diktators Jean-Bédel Bokassa. Bei der Präsidentenwahl 1981 kam es dann zu einer Neuauflage des Duells zwischen VGE und Mitterrand. Wieder ging es in die Stichwahl, aber dieses Mal mit anderen Ausgang: Frankreich bekam zum ersten Mal in der Geschichte der Fünften Republik einen linken Präsidenten. VGE wurde abgewählt. Von 2002 an führte Giscard den EU-Reformkonvent, der zur Erneuerung der Europäischen Union einen Verfassungsentwurf vorlegte. Mit dem Nein von Franzosen und Niederländern bei Volksabstimmungen 2005 scheiterte das Vorhaben jedoch. Danach übernahm der EU-Vertrag von Lissabon wichtige Regelungen der abgelehnten Verfassung. 2003 wurde Giscard in die prestigereiche Gelehrtengesellschaft Académie française gewählt, deren Mitglieder die „Unsterblichen“ genannt werden. Er verfasste mehrere Bücher, auch den Roman „Die Prinzessin und der Präsident“. Darin erzählt er, wie ein französischer Präsident namens Jacques-Henri Lambertye mit Prinzessin Patricia von Cardiff anbandelt. Der Roman ist reich an Anspielungen - ganz Paris spekulierte, ob VGE eine Affäre mit Prinzessin Diana hatte oder nur reich mit Fantasie gesegnet war. „Wir wollen mal nicht übertreiben: Ich kannte sie ein wenig, wir hatten ein vertrauensvolles Verhältnis“, sagte Giscard später dazu. Sein Name wird auch in der Spitzenküche weiterleben, die ein Aushängeschild Frankreichs ist. Der 2018 verstorbene Star-Koch Paul Bocuse kreierte eine berühmte schwarze Trüffelsuppe mit Blätterteighaube namens „V.G.E“, als ihm Giscard vor 45 Jahren den Orden der Ehrenlegion an die Brust heftete.

dpa