Symbolbild. Geflüchtete Kinder die von der Türkei unterstützt werden. (AA)
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Eine multikulturelle Gesellschaft basiert auf Solidarität und Vielfalt. In jüngster Zeit hat eben jenes Stichwort Solidarität eine weitere, vollkommen neue Bedeutung bekommen. Die bis vor Kurzem noch undenkbare globale Gesundheitskrise, ausgelöst durch COVID-19, hat der Weltbevölkerung deutlich gemacht, dass ein tödlicher Virus keine Grenzen kennt. Um ihn zu besiegen, müssen alle Länder engstens zusammenarbeiten und vor allem reichere Staaten weniger gut gestellten Nationen mit Impfstoffen aushelfen.

Und genau diese vom Prinzip her positive Neubestimmung des Wortes Solidarität erlaubt es uns, einen weiteren Aspekt in den Vordergrund zu rücken: Wie sollen wir reagieren, wenn Menschen in Not, Menschen in Angst, unschuldige Frauen, Männer und Kinder auf der Flucht vor Terror und Schrecken auf dem Weg zu uns sind? Sollen wir sie aufnehmen und ihnen eine neue Zukunft ermöglichen oder ganz einfach zurückschicken?

Um diese Frage zu beantworten, bedarf es zunächst einer Diskussion über das Thema multikulturelles Zusammenleben an sich. Staaten und ihre Gesellschaften, die ein hohes Maß an Internationalität vorweisen, werden Neuankömmlingen nicht die sprichwörtliche Tür vor der Nase zusperren, im Gegenteil. Die Bürgerinnen und Bürger und ihre gewählten Vertreter wissen nur zu genau, welche Bereicherung Menschen mit den unterschiedlichsten Lebenswegen für ihr Land darstellen. Eine multikulturelle Gesellschaft ist das genaue Gegenteil einer statischen Lebensform, die eines Tages ihre Relevanz verliert; Gesellschaften müssen sich ständig weiterentwickeln, an neue Verhältnisse anpassen.

Leider bezweifeln viele Regierungen in diesem Zusammenhang ihre Aufnahmekapazitäten; es geht um den Flüchtlingsstrom aus Krisengebieten wie Syrien, dem Irak und auch Afghanistan. Für manche ansonsten hochentwickelte Länder scheinen einige Tausend Menschen schon zu viel, eine eindeutige Bankrotterklärung des westlichen Wohlfahrtsstaat-Modells.

Denn multikulturelle Realität ist eben nicht nur die Bereitschaft, andere EU-Bürgerinnen und Bürger willkommen zu heißen, sozusagen die Sonnenseite der Debatte. Es muss auch beinhalten, Menschen aus Drittstaaten und selbstredend Menschen auf der Flucht zu beherbergen.

Viele Länder dieser Welt könnten in diesem Zusammenhang von der Türkei lernen. Das Land war schon immer ein Paradebeispiel dafür, wie man Menschen mit den unterschiedlichsten persönlichen Hintergründen willkommen heißt, und dies nicht etwa nur in Krisenzeiten, sondern prinzipiell, jeden Tag.

Diese kurze Analyse wird anhand von aktuellen Beobachtungen vor Ort den Stand der multikulturellen Dinge vorstellen, aber ebenso Licht auf weniger erfreuliche Randerscheinungen werfen, Stichwort Ausländerfeindlichkeit. Und genau mit diesem Thema beginnen wir.

„Ausländer raus“

Bolu ist eine äußerst lebenswerte Stadt im Nordwesten der Türkei, ein Naturparadies. Sie liegt zwischen Ankara und Istanbul und ist ein beliebtes Ausflugsziel. Was Besucher und Bewohner oft vereint ist der Eindruck, dass es sich um eine sehr harmonische Stadt handelt, ein Mikrokosmos der gesamten Türkei mit Unternehmen, Schulen und sogar einer eigenen Universität.

Diesen guten Ruf scheint in jüngster Zeit jedoch niemand anderes als der Bürgermeister Tanju Özcan verspielen zu wollen. In einer als rassistisch zu bezeichnenden Ansprache sagte Özcan, Ausländer sollten zehnmal höhere Wasserrechnungen sowie Abfallgebühren bezahlen, und wenn er die Möglichkeit und Autorität hätte, würde er städtische Bedienstete dazu auffordern, Flüchtlinge nach Hause zu schicken. Özcans eigene Partei CHP (Republikanische Volkspartei) geriet in politische Schräglage; so sagte zum Beispiel Mehmet Bekaroğlu, Abgeordneter der CHP in Istanbul, dass seine Partei eine sozialdemokratische Partei sei, deren Programm Xenophobie nicht beinhalten würde und dass Hassreden niemals akzeptiert würden (Quelle: Daily Sabah).

Diese Aussagen stehen im krassen Widerspruch zu allem, was die Menschen der Stadt auszeichnet. Sie wissen, dass selbst eine relativ kleine Stadt wie Bolu ihren Beitrag zur Humanität leisten muss und vor allem auch kann. Gerade in einer überschaubaren Gemeinde kann Integration oftmals schneller als in unübersichtlichen Metropolen geschehen.

Wollen wir hoffen, dass die Parteigremien wissen, wie man mit solchen Äußerungen umgeht, und dass auch ihr Vorsitzender Kemal Kılıçdaroğlu nun endlich klare Worte findet, die er manchmal in der Vergangenheit hat vermissen lassen. Wenn selbst eine sozialdemokratische Partei die Themen Solidarität, Humanität und multikulturelles Zusammenleben übersieht, sieht es in der Tat schlecht aus für die Opposition. Denn die Türkei ist ganz anders. Und genau darum geht es im folgenden Abschnitt.

Zwei Welten, oder eine Welt – live aus Istanbul

Zuerst schauen wir nach Fatih. Der Stadtteil Fatih ist berühmt für seine historischen Sehenswürdigkeiten und seine ansprechende geografische Lage, im Norden vom Goldenen Horn und im Süden vom Marmarameer begrenzt. Man muss nur den Großen Basar erwähnen, um die Relevanz für die Tourismusbranche zu verstehen.

Fatih ist eine bemerkenswerte Mischung aus Lebensraum gepaart mit Arbeitsraum; es ist in mancherlei Hinsicht eine eher traditionelle Nachbarschaft, aber eben auch eine weltoffene Nachbarschaft. Viele Flüchtlinge fanden ihre neue Heimat in diesem Stadtteil. Es gibt natürlich hier und da Reibungsverluste, aber im Großen und Ganzen hört man nur Positives – Menschen in Not brauchen eben eine Unterkunft. Ebenso wissen die Geschäftsleute, dass Handel auf Menschen mit Einkommen beruht.

Und genau diese Erkenntnis erlaubt es den Menschen in Fatih, ihren Beitrag zum multikulturellen Alltag in Istanbul zu machen. Der Tourist aus Amerika ist ebenso willkommen wie der Mensch vertrieben aus seiner früheren Heimat auf der Suche nach einer sicheren Existenz ohne Angst um sein Leben.

Ohne es abwertend zu meinen, können wir Fatih als Tourismushotspot, aber auch als Arbeiter- sowie Geschäftsleutedistrikt bezeichnen. In anderen Staaten würden sofort rassistische Töne vernehmbar oder gar rechtsextreme Gruppierungen auftauchen. Hier ist es nicht so.

Kein anderer Stadtteil eignet sich besser für einen Vergleich als Acıbadem auf der gegenüberliegenden Seite des Bosporus. Tourismus? Mangelware, da kaum Attraktionen. Belebte Straßen mit Geschäften an jeder Ecke? Eher nicht. Acıbadem ist zum Wohnen und Leben, zum Geldverdienen fährt man woanders hin. Aber Acıbadem ist ein schöner „Wohnstadtteil“ im positivsten Sinne. Er ist ein Familienparadies, aber ebenso sicher und ansprechend für die ältere Generation. Man meint, hier würde man kritischere Stimmen vernehmen, wenn es um das Stichwort Flüchtlingspolitik geht. Jedoch weit gefehlt: Die türkische Bevölkerung stimmt auch hier der Regierungspolitik zu, da „Hilfe in Notsituationen“ untrennbar mit der Lebenseinstellung der absoluten Mehrheit der Bevölkerung verknüpft ist.

Jung und ausgebildet und mit gutem Verdienst oder im Ruhestand und mit Blick über die Dächer der Metropole und zu Hause in Acıbadem oder Einzelhändler in Fatih, egal ob jung oder alt – wenn es um das Thema Solidarität und Hilfsbereitschaft geht, sind sich alle einig. Und das erfährt man eben am besten live vor Ort, wenn man genau diese heißen Themen anspricht.

Über eines sind sich aber auch alle einig: Es erscheint so, als ob Europa die Türkei als Auffanglager missbraucht, die Türkei vom Prinzip her alleinlässt nach dem Motto, Ankara wird es schon richten.

Der stellvertretende türkische Außenminister brachte es vor einigen Tagen auf den Punkt, und dies führt uns zum abschließenden Kommentar.

Türkei 4,2 Millionen, Europa …?

Minister Faruk Kaymakcı nahm Stellung zu Kommentaren von Österreichs Innenminister Karl Nehammer, der sagte, man müsse alles tun, um illegale Migration zu beenden und so wie 2020 Griechenland zur Hilfe zu kommen aufgrund der Provokationen der Türkei. Nachgefragt, um welche Provokationen es wohl ginge, sagte der Minister dann in den sozialen Medien: „Worin besteht die Obsession mit der Türkei die wohlwollend 4,2 Millionen Flüchtlinge beherbergt und somit fast die gesamte Last des Restes Europas trägt?“ (eigene Übersetzung).

Bereits im letzten Monat hatte Österreichs Bundeskanzler Sebastian Kurz einer deutschen Zeitung mitgeteilt, dass die Türkei ein passenderer Platz für Flüchtlinge aus Afghanistan sei als Deutschland, Österreich oder Schweden.

Kaymakcı machte aber auch deutlich, dass sein Land eine neuerliche Flüchtlingswelle nicht allein aufnehmen könne oder würde.

Fest steht, die Türkei wird weiterhin ein Vorbild für multikulturelle Vielfalt und internationale Solidarität bleiben. Fest steht aber auch, die Türkei kann nicht noch einmal Millionen von Hilfesuchenden aufnehmen. Europa ist nun am Zuge.

Wie multikulturell ist die Türkei wirklich?, fragten wir zu Beginn dieses Beitrages. Auf einer Skala von 0 bis 10 in der Spitzenposition!

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