Die DITIB-Zentralmoschee in Köln (AA)
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Die Stadt Köln hatte vorige Woche bekannt gegeben, dass der Ruf des Muezzins zum Freitagsgebet zwischen 12 und 15 Uhr für maximal fünf Minuten über einen Lautsprecher ertönen darf. Es handelt sich um ein zunächst zeitlich befristetes Modellprojekt, das mit mehreren Beschränkungen versehen ist. Der Pilotversuch ist vorerst auf zwei Jahre angelegt. Weitere Auflagen legen fest, dass bestimmte Immissionsrichtlinien eingehalten werden müssen. So ist die Lautstärke des Gebetsrufs je nach Lage der Moschee mit einer unterschiedlichen Höchstgrenze versehen. Es macht einen Unterschied, ob ein Gebetshaus in einem Industriegebiet, einer Randlage, einer dicht befahrenen Schnellstraße oder einer ruhigen Wohnsiedlung liegt. Zudem müssen die etwa 45 Kölner Moscheegemeinden ihre umliegende Nachbarschaft beispielsweise über Flyer, Informationsbroschüren oder Zeitungsanzeigen darüber informieren, dass in der jeweiligen Moschee freitags der Muezzinruf erklingt. Darüber hinaus muss jede muslimische Gemeinde für Fragen, Anregungen oder Beschwerden eine Ansprechperson vorweisen. Erst nach Beendigung der zweijährigen Modelllaufzeit findet eine Analyse und abschließende Bewertung des Pilotprojekts statt. Eine endgültige Entscheidung über eine mögliche Fortsetzung wird unmittelbar danach getroffen. Die Übertragung des muslimischen Gebetsrufs über einen Lautsprecher ist in Deutschland nicht neu. Bereits 1985 erstritt die türkisch-islamische Gemeinde im nordrhein-westfälischen Düren als erste Moschee in der Bundesrepublik das Recht, die Muslime vor Ort dreimal täglich über Mikrofon zum Gebet zu laden. Andere Städte wie Dortmund, Hamm, Siegen oder Oldenburg folgten dieser Praxis. Mittlerweile ist der lautsprecherverstärkte Gebetsruf an mindestens 30 Moscheen bundesweit eingeführt. Zudem waren während des Corona-Lockdowns den Moscheen in Deutschland als Zeichen der Solidarität Muezzinrufe gestattet worden.

Schmaler Grat zwischen Respekt und Respektlosigkeit

Nach Angaben des Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) leben in Deutschland aktuell zwischen 5,3 und 5,6 Millionen Muslime. Dies entspricht einem Bevölkerungsanteil zwischen 6,4 und 6,7 Prozent. Seit dem Zuzug von Geflüchteten 2015 stieg die Anzahl der Muslime in Deutschland um fast eine Million an. Allein diese Zahlen verdeutlichen, wie sehr der Islam und die Muslime ein Teil von Deutschland geworden sind. Die Frage, ob der Islam zu Deutschland gehört, wäre hiermit eigentlich beantwortet. Trotzdem gibt es eine noch immer starke Bewegung, die Muslime als unvereinbar mit Deutschland betrachtet. Für sie ist der Islam als Religion fortwährend ein Fremdkörper, der niemals zur Republik gehören wird. Die muslimischen Gemeinden in Deutschland gelten für diese Personen als „Vorfeldorganisationen fremder Staaten“, „verlängerter Arm von …“, „fremdbestimmte Gemeinschaften“ usw. Für solche Leute sind islamische Moscheen in Deutschland angeblich Orte, an denen die Integration verhindert wird. Bildung schützt anscheinend nicht vor Unwissen, um nicht zu sagen Dummheit. Denn wenn man sieht, wer alles das Ertönen des öffentlichen Gebetsrufes kritisiert und welche grotesken Argumente vorgebracht werden, wird es einem geradezu gruselig. Auf welchem Niveau die Diskussion angelangt ist, wird aus folgendem Wortbeitrag einer vermeintlich promovierten Soziologin erkennbar. Die Dame spricht sich dafür aus, einen wesentlichen Bestandteil des Gebetsrufs, nämlich „Allahu Akbar“ zu verbieten, da er von „Attentätern, Islamisten und Terroristen“ verwendet werde. Ginge es danach, spirituelle Inhalte oder Praktiken aufgrund des Missbrauchs der Religion durch Terroristen zu verbieten, dürfte womöglich keine Religion auf dieser Welt praktiziert werden. Der Blickwinkel ist schlicht religionsfeindlich. Ein anderer, angeblicher „Integrations- und Islamexperte“ wirft den Moscheegemeinden vor, sie wollten mit dem Gebetsruf eine „Machtdemonstration über ihre Viertel“ feiern. Eine in die Jahre gekommene, allerdings nach wie vor geltungsbedürftige Ex-Politikerin schreibt in den sozialen Medien, der Muezzinruf in Köln arte „zu einem Ruf des politischen Islams!“ aus.

Muslimische Gemeinden gehören in die Mitte der Gesellschaft

Diesen destruktiven Äußerungen steht allerdings eine grundlegend andere Sichtweise entgegen, die vom obersten Staatsorgan der Exekutive vorgebracht wird: Anfang Oktober hatte Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier den Muslimen zum Tag der Offenen Moschee eine Grußbotschaft gesendet. Darin hieß es, dieser Tag sei ein wichtiges Zeichen, „um den tagtäglich gelebten Islam, der in unserem Land zu Hause ist, sichtbar zu machen.“ Die Muslime und „Ihre Gemeinden gehören selbstverständlich in die Mitte unserer demokratischen, religiös so vielfältigen Gesellschaft“, unterstrich Steinmeier. „Nehmen Sie sich diesen Platz in der Mitte, der Ihnen zusteht, und füllen Sie ihn aus. Gestalten Sie dieses Gemeinwesen mit, denn es ist Ihre Gesellschaft.“ Der Bundespräsident machte deutlich, Deutschland sei zu einem „Land der vielen Religionen und Bekenntnisse“ geworden, in dem allen das Recht auf freie Entfaltung zustehe. Außerdem seien alle Menschen in Deutschland gefordert, in Respekt und Toleranz miteinander zu leben. Eben diese Grußbotschaft dient allen Kritikerinnen und Kritikern des islamischen Gebetsrufs als wegweisende Antwort. Es sind die Worte des obersten Repräsentanten des deutschen Staates. Und sie verdeutlichen: Muslime gehören mit ihrer religiösen Lebenspraxis in die Mitte der deutschen Gesellschaft. Sie werden ermutigt, ihre Religion sichtbar zu machen. Dazu gehört auch der Gebetsruf.

Gebetsruf bietet Chancen für Mehrheitsgesellschaft

Die Domstadt Köln wird international für ihre Weltoffenheit und Vielfalt gerühmt. Dazu gehört auch die religiöse Vielfalt. Die Entscheidung der Oberbürgermeisterin Henriette Reker (parteilos) reiht sich in den offenen Umgang der Stadtgesellschaft mit verschiedenen Religionen ein. Die Kritik, die Reker vor allem in den sozialen Medien entgegenschlägt, ist unberechtigt und verfehlt ihr Ziel. Besonders gegen die Diffamierungen aus dem religionsfeindlichen Spektrum sollte die Oberbürgermeisterin Solidarität erfahren. Damit ist diese Debatte auch eine Chance für den demonstrativen Zusammenhalt der verschiedenen Religionen. Für Muslime in und um Köln ist die Möglichkeit, dass Muezzine zukünftig zum Freitagsgebet rufen dürfen, eine Geste der Willkommenskultur. Für Christen und Juden wiederum kann der Ruf des Muezzins eine Erinnerung an die Existenz des einen Gottes sein. Für alle anderen Menschen besteht die Möglichkeit, einfach innezuhalten.

Zeichen der Achtung gegenüber Muslimen

Der längst überfällige Entschluss hat ferner eine integrationspolitische Signalwirkung für alle Musliminnen und Muslime in der rheinischen Metropole. Auch darf diese Option 60 Jahre nach dem Anwerbeabkommen mit der Türkei als Ausdruck der Beheimatung der Muslime in Deutschland gedeutet werden. Denn in Köln leben 120.000 Muslime. Etwa die Hälfte von diesen Menschen hat eine türkische Migrationsgeschichte. Die Entscheidung der Stadt ist daher auch ein Zeichen des Respekts gegenüber diesen Menschen. Hierdurch wird signalisiert: „Muslime sind ein Teil von uns. Sie gehören dazu.“ Leider ist das in Teilen Deutschlands noch immer keine Selbstverständlichkeit.

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