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Das spurlose Verschwinden von Flüchtlingskindern in Deutschland ist ein vernachlässigtes Thema. Offizielle Berichte und Statistiken liefern keine befriedigenden Erklärungen. Das schmälert das Vertrauen in die Aufklärungsarbeit staatlicher Behörden.

Seit 2015 spielt sich in Deutschland ein Desaster ab, welches regelrecht von Politik, Medien und teilweise auch der Gesellschaft ignoriert und totgeschwiegen wird: die verschwundenen Flüchtlingskinder Deutschlands.

Ich bezeichne es als ein „Tabuthema Deutschlands“, da mir öffentliche Antworten, Aufklärung und jegliche Informationen zu den Fällen seitens der Bundesregierung, der Bundesämter und der Politik fehlen. Die jährlich bekanntgegebenen Fälle und Aufklärungsquoten ohne Details stellen mich in keinster Weise zufrieden. Ich habe nicht den Eindruck, dass man diese Vorfälle aufdecken will. Ganz im Gegenteil: Die Kurzhaltung der Berichte und das Weglassen von Detailangaben steigern meine Angst um die Kinder. Und ich weiß, dass viele dasselbe empfinden. Vor allem jene, die ebenso wie ich, ehrenamtlich in der deutschen Flüchtlingsarbeit tätig sind und dadurch betroffene Familien kennengelernt haben. Sie warten immer noch mit voller Hoffnung auf Aufklärung und bangen immer mehr um Leib und Leben dieser Kinder. Berichte über die Ausbreitung von Pädophilen-Netzwerken, Ausbeutung von Kindern, Menschenhandel aller Art und die Verharmlosung des Rechtsextremismus in Deutschland steigern unsere Befürchtungen.

Laut dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) erfolgte 2015 eine Erstregistrierung von ca. 890.000 Schutzsuchenden in Deutschland. Hiervon waren 31,1 Prozent, also 137.479 Personen, minderjährig. Bei 22.255 davon handelte es sich um unbegleitete Flüchtlingskinder.

Anfang 2016 konnte man den Medienberichten entnehmen, dass europaweit 10.000 Flüchtlingskinder verschwanden. Die Zahlen beruhen auf den Angaben von Europol. Diese Kinder sollen während ihrer Flucht durch Europa verschwunden sein. UNICEF erklärte im Februar 2016, dass die Europol-Statistik zwar ernst genommen werde, aber nicht verifizierbar sei. Grund hierfür seien große Schwächen und Fehler im Flüchtlingsregistrierungssystem der EU-Länder.

Auch wenn deutsche Mediengesellschaften regelmäßig Beiträge über den Rückgang der als vermisst geltenden Flüchtlingskinder in Deutschland veröffentlichen, liegt die Zahl immer noch im vierstelligen Bereich. Dem Bundeskriminalamt (BKA) zufolge lag die Zahl der „vermisst gemeldeten“ unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge (umF) im Jahr 2015 bei 8170. Für das Jahr 2016 war mit 9752 vermisst gemeldeten umF ein Anstieg zu verzeichnen. Im Jahr 2017 erfolgte ein Rückgang, hier wurden im Jahresverlauf 6214 umF als vermisst registriert. 2018 lag die Zahl bei 3.968 Fällen, 2019 bei 2223 Fällen. Letztlich gab die Bundesregierung Ende März 2020 auf Anfrage der Linken bekannt, dass derzeit noch 1785 unbegleitete Flüchtlingskinder als vermisst gemeldet sind.

Die Dunkelziffer liegt wahrscheinlich viel höher, da nur eine Statistik über unbegleitete Flüchtlingskinder geführt wird. Vermisste Flüchtlingskinder in Begleitung der Eltern oder eines Vormundes fließen in die allgemeine Vermisstenstatistik ein.

Gründe für das Verschwinden der Flüchtlingskinder

Laut Berichten und Aussagen der Bundesregierung sind mögliche Gründe für das Verschwinden der Flüchtlingskinder die Weiterreise zu Familienangehörigen innerhalb Deutschlands oder im europäischen Ausland. Ebenso die Unzufriedenheit im jeweiligen Unterbringungsort, der von den deutschen Jugendämtern bestimmt wird.

Kriminelle Hintergründe wären der Bundesregierung nur über Fremdberichte wie von der Arbeitsgemeinschaft zum Schutz der Kinder vor sexueller Ausbeutung (ECPAT) bekannt. ECPAT schildert hier, dass Flüchtlingskinder unter massivem Druck von kriminellen Netzwerken stehen, damit sie ihre Unterkünfte verlassen. Sie würden durch Versprechen gelockt und ihnen werde das Blaue vom Himmel versprochen - unter anderem Zugehörigkeit, familienähnliche Strukturen und Wohlstand. Ob es sich hierbei um Pädophilen-Netzwerke, die Organmafia oder andere Arten von Menschenhandel handelt, ist derzeit nicht bekannt.

Die Aufklärung der vermissten Fälle

Jedes Jahr wird vom BKA auch die Zahl der aufgeklärten Fälle für die vermissten umF bekanntgegeben. 2015 wurden demnach 7760 Fälle geklärt. Für 2016 soll die Aufklärungszahl bei 9442 Fällen liegen, für 2017 bei 6004 Fällen. Im Jahr 2018 sollen 3750 und bis Anfang März 2020 weitere 1796 Fälle aus dem Jahr 2019 geklärt worden seien. Laut der Bekanntmachung liegt die Aufklärungsquote fast immer über 90 Prozent.

Ich persönlich vermisse in diesen Aufklärungsberichten die konkrete Aufklärungsarbeit wie auch den Zustand der vermissten umF. Es geht aus diesen Berichten nicht hervor, ob sich die Kinder ohne Registrierung oder mit einer anderen Identität in anderen Ländern oder bei Verwandten aufgehalten haben. Ob es gar Todesfälle oder amtlich bekannte Fälle von Ausbeutung, Prostitution und anderen Misshandlungen gibt, die nicht in die Öffentlichkeit getragen werden. Das ist nämlich meine Befürchtung.

Zudem gab die Bundesregierung auch in seiner Antwort an die Fraktion die Linke zu verstehen, dass es sich bei den vermeintlich „aufgeklärten Fällen“ nicht immer um eine Aufklärung im eigentlichen Sinn handelt. Denn die vermissten Kinder werden irgendwann erwachsen und verschwinden dadurch aus der Statistik. Die „Aufklärungsquoten“ täuschen.

Appell an Bundesregierung

Um unverfälschte Aufklärungsquoten zu liefern, sollten Bundesregierung, BKA und sämtliche zusammenhängende Ämter mit offenen Karten spielen. Es sollte öffentlich bekanntgegeben werden, wie viele umF-Fälle sich in welcher Weise geklärt haben: wie viele umF sich an anderen Orten aufgehalten haben und wie viele leider Gottes Opfer von kriminellen Netzwerken wurden. Des Weiteren sollte der Gesellschaft auch transparent dargestellt werden, wie es sein kann, dass Kinder in Unterbringungsorten, die vom Jugendamt geleitet und beobachtet werden, einfach verschwinden können.

Das Schweigen der Politik - vor allem der Bundesregierung - sollte endlich ein Ende finden. Denn je länger das Thema tabuisiert wird, desto mehr Fragezeichen werden auftauchen. Das Vertrauen in die Aufklärung wird dadurch immer geringer - genauso in die Bundesregierung. Das wird sicherlich auch ganz andere Folgen und Anschuldigungen mit sich bringen: z.B. eine mögliche Mitschuld der Politik beim Verschwinden der Kinder oder eine bewusste Verschleierung derartiger Fälle.

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