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39 türkeistämmige Fachleute sowie ein deutscher Experte haben mit dem 1000-seitigen Werk „Deutschland in der Weltpolitik I + II“ versucht, nahezu alle relevanten Themenbereiche abzudecken.

Akademische Untersuchungen oder populärwissenschaftliche Veröffentlichungen über die Türkei gibt es zuhauf im deutschsprachigen Raum. In regelmäßigen Abständen werden Analysen über das Land am Bosporus publiziert. Universitätsfakultäten, Forschungsinstitute, Kirchen, Beratungsgesellschaften oder Denkfabriken gehören zu den Protagonisten. Zudem führen Journalisten, Soziologen, Politologen, Historiker und Autoren aus anderen Fachdisziplinen die Spitze derjenigen an, die zumeist ausgesprochen kritische Monografien oder Sammelbände über die Türkei herausgeben, um uns so das Land aus ihrer Perspektive zu erklären. Derartige Veröffentlichungen in der Türkei über Deutschland waren bisher Mangelware.

Deutschland im Fokus der türkischen Wissenschaft

Diesmal jedoch haben sich 39 türkische und türkischstämmige Fachleute sowie ein deutscher Experte daran versucht, Deutschlandder türkischen Öffentlichkeit detaillierter zu erklären. Das etwas mehr als 1000-seitige Werk „Dünya Siyasetinde Almanya I + II“ [„Deutschland in der Weltpolitik I + II“], das Anfang 2020 beim Verlag „nobel“ in Ankara erschien und aus zwei Sammelbänden besteht, deckt nahezu alle relevanten Themenbereiche deutscher Geschichte, Politik, Verwaltung, Wirtschaft und Gesellschaft ab. Die drei Herausgeber der Sammelbände gelten als renommierte Wissenschaftler in der Türkei. Allen voran Prof. Hüseyin Bağcı von der Middle East Technical University (METU) in Ankara. Der Fachmann für Außen- und Sicherheitspolitik, der auch in Bonn studierte, lehrt internationale Beziehungen und ist seit langen Jahren als Deutschlandexperte bekannt. Des Weiteren zählt Prof. Burak Gümüş zum Herausgeberteam. Der in Deutschland geborene Soziologe und Politikwissenschaftler, der seine Promotion an der Universität Konstanz erlangte, lehrt derzeit an der Verwaltungs- und Wirtschaftsfakultät der Universität Thrakien in Edirne. Der dritte und letzte im Bund der Herausgeber ist der Politologe und Soziologe Dr. İsmail Ermağan. Auch er ist in Deutschland geboren, genauer gesagt in Hamburg. Der Migrationsexperte trat bereits als Herausgeber der Sammelbände „Dünya Siyasetinde Latin Amerika“ (2017) [„Lateinamerika in der Weltpolitik“] sowie „Dünya Siyasetinde Afrika“ (2018) [„Afrika in der Weltpolitik“] in Erscheinung.

Ziel: Wissensmängel über Deutschland reduzieren

Die Herausgeber machen im Eingang ihres Werks darauf aufmerksam, dass Deutschland als viertgrößte Wirtschaftsnation der Welt, als politisch-ökonomische Führungsmacht („Lokomotive“) der Europäischen Union und mit ihrem grenzüberschreitenden Human- und Sprachkapital ein überaus ernst zu nehmender Akteur auf der Bühne der internationalen Beziehungen sei. Dennoch: Die zentrale Bedeutung Deutschlands für die Türkei entstehe primär über die Existenz der Türken und Deutschtürken, die in dem Land lebten. „Deutschland ist für mindestens drei Millionen Menschen von uns eine Heimat geworden. Wir sind gegenwärtig verwandt mit diesem Land“, so die Herausgeber. Die aus zwei Sammelbänden bestehende Publikation habe deshalb das Ziel, die in der Türkei herrschenden Wissenslücken über „dieses verwandte Land“ zu füllen.

Wirtschaft, Politik, Religion, Kunst, Kultur und Wissenschaft

Überdies besitzt die wissenschaftliche Veröffentlichung, bei der eine große Anzahl von Fachspezialisten und auserlesenen Autoren mitwirken durfte, eine Funktion als Nachschlagwerk. Im ersten Band der Publikation nehmen die Wissenschaftler in unterschiedlichen Aufsätzen die Geschichte Deutschlands und ihre Außenpolitik in den Fokus. Band zwei widmet sich einer größeren Auswahl an Themen. Hier werden unter anderem, sowohl auf Mikro- als auch auf Meso- und Makroebene, die Bereiche Wirtschaft, Gesellschaft, Regierungs- und Verwaltungssystem, Medien, Literatur, Kunst, Bildung, Sport usw. eruiert. Für das Herausgebergespann bilden nicht nur Studenten und Lehrkräfte aus den Fachbereichen Politik- und Geschichtswissenschaften, internationale Beziehungen, Wirtschaft, Kunst oder Dergleichen eine wichtige Zielgruppe. Sie weisen auch darauf hin, dass diese Bücher über Deutschland wichtige Informationsquellen für aktive Politiker, Beamte im diplomatischen Dienst, Berater, Beschäftigte im Tourismussektor, Religionsbedienstete und Imame, Multiplikatoren sowie Mitglieder von zivilgesellschaftlichen Organisationen darstellen. Zur weiteren Zielgruppe zählen außerdem Geschäftsleute, Unternehmer und Medienvertreter. Aber auch an die übrige, breitere türkischsprachige Öffentlichkeit, die auf der Suche nach fundierten Berichten und Analysen über Deutschland ist, widmen sich diese beiden Sammelbände.

Ein Gewinn für die türkisch-deutschen Beziehungen

Die beiden Bände „Deutschland in der Weltpolitik I + II“ mit so unterschiedlichen Wissenschaftlern und Experten aus diversen Disziplinen markieren einen Meilenstein für das Verständnis Deutschlands in der Türkei. Damit stellen diese Sammelbände einen herausragenden Beitrag für die türkisch-deutschen Beziehungen dar. Nicht nur aufgrund des jahrhundertealten türkisch-deutschen Verhältnisses, das auf mehreren Säulen fußt. Beide Staaten unterhalten eine enge politische, kulturelle, soziale, militärische und wirtschaftliche Partnerschaft. Jedes Jahr besuchen Millionen deutsche Touristen die Türkei, die mit zu den beliebtesten Reisezielen der Deutschen zählt. Die Mehrheit der deutschen Touristen zeigte sich von den politisch-medial flankierten Kampagnen der letzten Jahre relativ unbeeindruckt, sodass die türkische Tourismusbranche nach einer kurzen Krise wieder volle Fahrt aufgenommen hat. Ferner ist Deutschland noch immer Hauptimporteur von Waren und Dienstleistungen aus der Türkei. Zugleich liegt die Türkei ihrerseits an dritter Stelle bei Importen aus Deutschland. Freilich liegt kein Land der Welt bei Direktinvestitionen in der Türkei vor Deutschland. Deutsche Firmen verteidigen, trotz manch konjunktureller oder bilateraler Turbulenzen beider Länder, noch immer ihre Spitzenposition am Bosporus. Nicht zuletzt leben über drei Millionen Menschen in Deutschland, die sich aufgrund familiärer oder verwandtschaftlicher Beziehungen mit der Türkei verbunden fühlen. Viele von ihnen sind bereits seit einigen Generationen deutsche Staatsbürger. Obwohl ihre Vorfahren aus dem Land zwischen Orient und Okzident stammen, ist Deutschland die Heimat dieser Menschen. Manche von ihnen bringen es folgendermaßen auf den Punkt: „Deutschland ist unser Mutterland, die Türkei unser Vaterland!“

Von Asymmetrie zu Augenhöhe?

Den türkisch-deutschen Beziehungen, die seit langen Dekaden von einer teils strukturellen, teils konjunkturellen Asymmetrie geprägt sind und sich erst seit einigen Jahren, vor allem seit dem gescheiterten Putschversuch vom 15. Juli 2016, auf eine gemeinsame Augenhöhe zubewegen, hatte so eine außergewöhnliche Publikation bisher gefehlt. Nun ist der Anfang gemacht. Bleibt zu hoffen, dass die Zahl der Studien und Veröffentlichungen über Deutschland in der Türkei weiter zunimmt.

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