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Liebes Europa, liebe Vereinte Nationen, schöne Welt ...

Sie kennen doch Bosnien, dieses Land, in das Sie immer wieder für Massenbestattungen reisen, in dem Massaker und ein Völkermord stattfanden ... Das Land, in dem wir immer wieder neue Gräber öffnen. Von dort melde ich mich.

Zu jener Zeit war ich ein siebenjähriges Kind. Ein Kind, das plötzlich lernen musste, was es heißt, seinen geliebten Bruder zu verlieren und keine Freude über die Einschulung zu empfinden. Ich war der stille Schrei, ein Kind, das sich trotz Hunger und Durst auf das nahende Ramadanfest freute und auf dessen Haus in jener Nacht Bomben niederprasselten. In jener Nacht lernte ich, die ich bis dahin keine schlechten Gefühle kannte, was Wut bedeutet. Ich war mir aber auch nicht ganz sicher, auf wen genau ich wütend sein sollte: Auf die Feinde, die unser Haus grundlos bombardierten, oder etwa auf die ganze Welt, die meinen Aufschrei nicht hörte?

Fast vier Jahre meiner Kindheit verlebte ich im Bombenhagel, als Ziel von Scharfschützen, meist hungrig, durstig und in der Kälte auf dem Beton schlafend. Diese vier Jahre kann ich nicht in diese (kurzen) Zeilen packen. Mit sieben sah ich das Blut aus dem Nacken meines Bruders laufen und erlebe das wieder und wieder. Den Geruch seines Blutes kann ich nicht durch diese Zeilen vermitteln. Und ich dachte, die Welt weiß nichts davon, nichts von dem, was wir durchgemacht haben. Niemand wusste von unserer Verzweiflung. Denn hätten sie es gewusst, hätten sie sicher geholfen, um zu verhindern, dass Kinder sterben. Sicher hätte es irgendjemanden gegeben, der seine Hand ausgestreckt hätte.

Nun bin ich aber erwachsen. Meine Erlebnisse haben mich zu einem starken Individuum gemacht. Und erst als ich älter wurde, habe ich verstanden, wie naiv ich damals war. Naja, welches Kind ist nicht naiv? Wie gesagt, ich dachte, es lag daran, dass niemand wusste, was wir durchmachten. Und dennoch schauen wir uns heute wieder zusammen an, wie Kinder getötet werden. Wir wissen es, wir sehen es, können aber nichts dagegen tun. Manche wollen etwas tun, können es aber nicht, beispielsweise meine Wenigkeit. Bei den brutalen Anschlägen der letzten Tage auf den Gazastreifen spüre ich förmlich die Angst der Kinder dort. Ich weiß, wie sie sich bei jedem Bombeneinschlag die Ohren zuhalten. Und ich möchte in die Welt hinausschreien, ich möchte sagen: „Stoppt diese Massaker!“ Ich fühle, was die Kinder dort erleben, aber ich kann nichts dagegen tun. Ich versuche ein weiteres Mal, meinen Kampf in diese Zeilen zu packen.

Aber ihr könnt etwas tun. Damit ihr euch nicht wieder in zwanzig Jahren bei den Kindern, diesmal den palästinensischen, entschuldigen müsst, könnt ihr jetzt damit beginnen, die Grausamkeiten im Gazastreifen und der Aqsa-Moschee zu stoppen.

Damit Geschichte die Wahrheit bezeugt, ist es beim Bosnienkrieg wichtig zu wissen, wer Recht und wer Unrecht hatte. Es ist auch wichtig, dass sich so manch ein Verantwortlicher für all die Brutalität und den erbarmungslosen Krieg entschuldigt. Doch all das bringt meine Kindheit nicht zurück. Die Tage, in denen ich das Lachen verlernt habe, kehren nicht zurück. In meiner Kindheit hatte ich nur ein Spielzeug, nämlich eine Puppe, die durch eine Bombe, die in unserem Haus einschlug, zerfetzt wurde und von meiner Mutter wieder zusammengeflickt werden musste. Mit leeren Patronenhülsen und Bombenteilen habe ich gespielt. Kann mir jemand meine Kindheit zurückgeben?

Das kann niemand. Aber andere Kinder verdienen es, ihre Kindheit zu erleben.

Nach dem Krieg in Bosnien und Herzegowina gab es eine Floskel, die die internationale Gemeinschaft immer und immer wieder betont hat: „Nie wieder.“

Hier ist nun die Gelegenheit. Ich würde mich derart freuen, als würde ich meine Kindheit zurückbekommen. Stoppt die Angriffe auf Gaza und auf die Aqsa-Moschee. Wenn man das wirklich will, kann man es auch. Stoppt diese Offensive, um nicht noch einmal sagen zu müssen, dass es euch leidtut und man daraus gelernt habe. So wäre auch mir bewiesen, dass das „Wir haben daraus gelernt“ in Bezug auf Bosnien aufrichtig gemeint war.

Seit Jahren erleben wir, wie Kinder in Syrien ermordet werden, und sind überfordert damit, mit den Flüchtlingen. Wir verfolgen momentan auch, was mit den Uiguren passiert. Wir werden Zeuge davon, wie Kinder gewaltsam und schreiend von ihren Müttern und Vätern getrennt werden. Wir haben gesehen, wie ein Kind, das nur das Gebet in der Aqsa-Moschee verrichten wollte, vor den Plastikgeschossen der israelischen Soldaten geflohen ist. In den Medien, den sozialen Medien ...

Zu meiner Zeit gab es keine sozialen Medien. Ich konnte damals nicht mit der Welt teilen, wie ich auf dem Weg zur Schule den Scharfschützen entkam. Und genau deshalb möchte ich jetzt der Aufschrei all jener Kinder sein, die wir heute sehen.

Meine Aufschreie wurden vor 25 Jahren nicht erhört. Hört bitte heute auf die Kinder von Gaza und beschützt die Aqsa-Moschee.

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