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Der Begriff „Leitkultur” ist getrübt, überholt und veraltet. Bei den Debatten geht es sehr oft um Identitätsfragen, die uns Deutsche schon seit Jahrhunderten beschäftigen.

Der Begriff „Leitkultur“, den der Politikwissenschaftler Bassam Tibi in den 1990ern prägte, wird in Deutschland grundlegend fehlgeleitet diskutiert. Konservativ-bürgerliche, rechte und islamkritische Kreise verbinden damit nicht selten eine Assimilation, d.h. völlige Angleichung nicht nur der Werte und Normen, sondern auch der Kultur und Identität. Bedauerlicherweise wird der Begriff „Leitkultur“ oftmals als Trennlinie zum vermeintlich „Fremden“ verwendet. Solange die Diskussion hingegen über eine Abgrenzung zwischen „Wir“ und „Ihr“ geführt wird, kann kein gemeinsames „Wir“ entstehen. Sich über den „Anderen“ zu definieren, führt stattdessen zwangsläufig zu weiterer Abgrenzung. So entstehen neue Barrieren und Mauern. Diese Art Identitätskonflikte führen nicht selten dazu, die vorhandenen Spannungen auf Kosten anderer Menschen auszutragen. Das Schema läuft folgendermaßen ab: Durch die Abwertung des „Anderen“ wird das eigene „Ich“ aufgewertet. Auch in der „Leitkulturkontroverse“ beobachten wir entsprechende Strukturstränge. Bei der Diskussion um die „Leitkultur“ geht es sehr oft um Identitätsfragen, die uns Deutsche schon seit Jahrhunderten beschäftigen.

Identitätssuche und Identitätskonflikte

Durch die Gründung des Deutschen Reiches 1871 sollte eine gesamtdeutsche Identität geschaffen werden. Fatalerweise wurde diese Identität, auch im Zuge von Transformationsprozessen, in Teilen durch völkische und ethno-nationalistische Gedanken beschädigt. Die industrielle Revolution zur Mitte des 19. Jahrhunderts bewirkte gravierende soziale, familiäre und psychologische Veränderungen in bis dahin agrarisch geprägten Gegenden. Der Wandel im politischen, wirtschaftlichen und sozialen Umfeld führte zu Verunsicherung bei vielen Menschen. Es wurden Sündenböcke geschaffen, die dann für unvorteilhafte Veränderungen verantwortlich gemacht wurden. In der Geschichtswissenschaft gilt der Transformationsprozess als elementarer Grund für die Entwicklung der völkischen Ideologie. Diese besaß die dynamische Kraft, um eine neue deutsche Identität zu schaffen.

So kam es zu zwei Weltkriegen und die zuvor genannte neue Identität nahm großen Schaden. Die Weimarer Republik als erste deutsche Demokratie wird als „Republik ohne Demokraten“ bezeichnet. Extreme Rechte und linke Parteien sowie konservative Eliten identifizierten sich kaum mit der demokratischen Staatsform.

Nach der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten unter Adolf Hitler erlebten wir Deutschen erneut einen Identitätswandel, der in eine Katastrophe und totale Niederlage mündete. Die Bundesrepublik mit ihrer von den Alliierten verordneten neuen Demokratie musste abermals eine neue – diesmal atlantisch-europäische – Identität aufbauen. Diese neue Identität sollte vor dem Hintergrund des „Kalten Krieges“ heranwachsen. Für die Deutschen aus dem Osten waren die Westdeutschen, zu denen teilweise eigene Familienmitglieder, Verwandte, Freunde und Bekannte gehörten, auf einmal „Klassenfeinde“. Nach dem Mauerfall und der Wiedervereinigung musste erneut eine neue gemeinsame Identität gefunden werden. Auch diese brauchte einen Gegensatz, der schnell gefunden war: Sogenannte Ausländer und Asylanten mussten herhalten.

Der 11. September 2001 führte erneut zu einer neuen Identitäts- und Kulturdebatte. Diesmal ging es um „Muslime“ und den „Islam“ als Gegenpol zum sogenannten christlich-jüdischen Erbe. Es ist gut möglich, dass die Flüchtlingskrise, der beinahe Bankrott Griechenlands, der Rechtspopulismus (AfD/Pegida) und Rechtsterrorismus (NSU, Halle, Hanau) in Deutschland sowie der Brexit und damit ein möglicher Kollaps der gesamten Europäischen Union dazu führen, dass wir in Deutschland erneut vor einer Identitätsfrage stehen. Auch heute scheinen die Menschen auf der Suche nach sich selbst und nach Identität zu sein. Diejenigen, die damit überfordert sind, können den völkisch-autoritären Populismus und den identitätsstiftenden Extremismus als Rettungsanker (be)greifen. Ob sich dieser Anker jedoch wirklich als Retter in der Not oder als Fallstrick erweist, wird sich noch zeigen. Der entscheidende Vorteil, den wir allerdings heute haben, ist, dass wir auf die Erfahrungen und vor allem die Fehler der Vergangenheit zurückblicken und von diesen lernen können.

Wer nach „Leitkultur“ ruft, muss Teilhabe ermöglichen

Die lange Jahre verweigerte Einsicht, allen voran Seitens der Bürgerlich-Konservativen, dass Deutschland ein Einwanderungsland und überdies noch mehrkulturell und bunt ist, zeigt, dass wir uns weiterentwickeln, verändern und an die Realitäten der Zeit anpassen. Rückblickend können wir daher konstatieren: Assimilationspolitik, Realitäts- und Erkenntnisverweigerung, aber auch Belehrungsgehabe und Paternalismus haben eine gemeinsame Konsenskultur in Deutschland verhindert. Die beste Eingliederungspolitik ist Teilhabe: Niemand darf aufgrund seiner politischen oder religiösen Anschauung diskriminiert werden. Niemand sollte wegen seines Namens, seiner Hautfarbe oder Kopfbedeckung in der Bildung sowie auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt ausgegrenzt werden.

Wer lautstark nach Leitkultur oder Integration ruft, muss sich mit den Diskriminierungsmechanismen bewusst auseinandersetzen. Dies darf nicht, wie Forschungsergebnisse zeigen, rein plakativ erfolgen. Denn Diskriminierung erfüllt laut internationalem Recht einen Straftatbestand. Es ist eine Divergenz bei der Bewertung verschiedener Inhalte seitens der Einwanderer und Alteingesessenen zu beobachten. Doch auch die Einheimischen sind ehemalige Einwanderer, die es nur vergessen oder verdrängt haben. Hierzu ein anschauliches Zitat des Migrationsforschers Klaus Bade: „Die sogenannte Mehrheitsgesellschaften ohne Migrationshintergrund sind in Wahrheit Gesellschaften mit verlorener Erinnerung an die eigenen Migrationshintergründe.“

Eine Konsenskultur statt „Leitkultur“

Benachteiligung und Diskriminierung in Gesellschaft, Beruf und dem politisch-kulturellen Leben können eine Konsenskultur und eine gemeinschaftliche Identität behindern. Auch wenn es sich paradox anhören mag: Eine „plurale Einheitskultur“ oder „diverse Gemeinschaftskultur“ ist stets möglich. Unsere Verfassung gibt uns dabei eine adäquate Richtschnur. Nur: Wie ernst nehmen wir die Artikel unseres Grundgesetzes? Wenn wir uns wirklich alle an die Paradigmen des Grundgesetzes halten, brauchen wir keine periodischen „Leitkulturdebatten“. Eine Konsens- oder Gemeinschaftskultur ist da erstrebenswerter.

Der Begriff „Leitkultur” ist getrübt, überholt und veraltet. Er wird in regelmäßigen Abständen von bestimmten Kreisen als Kampfbegriff verwendet. Zudem ist er anfällig für spaltende, aus- und abgrenzende Kontroversen. Das Wort besitzt somit einen antipluralistischen Aspekt und richtet sich in erster Linie an Einwanderer, allen voran an türkische und muslimische Migranten. Wie wäre es, sich auf eine alternative Bezeichnung zu einigen, die für alle Menschen die Möglichkeit bietet, sich mit den Grundsätzen unserer Verfassung, also mit Menschenrechten, Rechtsstaatlichkeit, Pluralismus, Gleichberechtigung, Teilhabe, Diversität, Religions- und Meinungsfreiheit, Akzeptanz, Respekt sowie Toleranz zu identifizieren?

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