Zwei Jahre nach dem Anschlag auf die Synagoge in Halle wird am Samstag der Opfer vom 9. Oktober 2019 gedacht. Alle Kirchenglocken in der Stadt läuten ab 12.04 Uhr. Auf die Minute genau soll damit an die Menschen erinnert werden, die bei dem rechtsterroristischen Attentat getötet, verletzt und traumatisiert worden sind. Unter anderem haben sich Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Reiner Haseloff und Landtagsvizepräsidentin Anne-Marie Keding zum Erinnern an der Synagoge und dem Kiez-Döner, dem zweiten Ort des Anschlags, angekündigt.
Eines der Opfer hatte sich aus gesundheitlichen Problemen emporgekämpft
Was nach dem Attentat bleibt, ist ein Antisemit in lebenslanger Haft, zwei tote Menschen, eine Tür und die damit verbundene Erzählung vom Glück, dass der jüdischen Gemeinde in Halle an jenem Tag wohl widerfuhr - Glück, das den beiden zufälligen Opfern an diesem Tag fehlte.
Da ist zum einen der 20-jährige Kevin S., der in einem Dönerladen getötet wurde. Im Prozess gegen den Attentäter berichtet Kevins Vater voller Stolz, wie sein Sohn trotz gesundheitlicher Probleme gekämpft habe – um Akzeptanz und vor allem um Eigenständigkeit. Durch jahrelange Praktika habe es der Sohn geschafft, eine Malerlehre anfangen zu können. „Er war megastolz“, sagte der Vater des Opfers.
Und da ist die 40 Jahre alte Passantin Jana L., der der Attentäter vor der Synagoge in den Rücken schoss. Als sie ihm über den Weg lief, ahnte sie nicht, in welcher Lebensgefahr sie sich befand. Jana L. sackt wenig später in sich zusammen und stirbt auf dem Fußweg.
„Immer präsent, auch wenn man nicht ganzen Tag daran denkt“
Das Ziel des Attentäters Stephan Balliet waren die Menschen in der voll besetzten Synagoge, die sich dort am höchsten jüdischen Feiertag Jom Kippur getroffen hatten. Er scheiterte an der massiven Tür vor dem Gotteshaus, die heute als Mahnmal - eingefasst in ein Kunstwerk - auf dem Gelände der Synagoge steht.
Man könne es von der Präsenz im eigenen Leben mit dem Tod der Eltern vergleichen, sagt der damals anwesende Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde zu Halle, Max Privorozki, rückblickend. „Es ist etwas, das immer präsent ist, aber das heißt nicht, dass man den ganzen Tag daran denkt.“ In diesem Jahr zu Jom Kippur habe er um 12.00 Uhr noch mal an das Attentat erinnert. „Das war so nicht geplant.“
Privorozki berichtet, wie seine Tochter ihn nach dem Attentat und in Sicherheit befindend in die Arme schloss. Da habe er realisiert, mit dem Leben davongekommen zu sein, sagt er. Stunden verbrachte die Gemeinde in der Synagoge. Selbst nach dem Attentat mussten die Überlebenden mehr als vier Stunden in dem Gotteshaus verharren – auf Anordnung der Polizei. Nach den polizeilichen Maßnahmen wurde die Gemeinde mehrheitlich mit einem Bus in das St. Elisabeth und St. Barbara Krankenhaus gebracht. Dort wurde nach Angaben vieler Anwesender erstmalig Platz geschaffen für einen Moment des Durchatmens.
Kasten Bier an Jom Kippur als Symbol des Überlebens
„Die nachhaltigste Erinnerung an dem Tag kann ich auf einen Moment reduzieren: Das war am Abend, als wir nach dem Fastenbrechen im Kreis der jüdischen Gemeinde mit einem Kasten Bier in der Mitte zusammengesessen und aufs Leben angestoßen haben“, berichtet Hendrik Liedtke, ärztlicher Direktor des Krankenhauses, mit schwerer Stimme. „Da war bei vielen der Punkt, wo sie realisiert haben, was sie da eigentlich hinter sich haben“, sagt Liedtke.
Der Moment soll für Liedtke in einer Tradition weiterleben: Auch zum Jom Kippur 2021 brachte er wie schon im vergangenen Jahr einen Kasten Bier zu der Synagoge. „Jeder hat sofort verstanden, warum es dieser Kasten Bier war – das musste ich niemandem erklären.“
Der Stadt Halle habe der Anschlag eine Narbe zugefügt, sagt der aktuell suspendierte Oberbürgermeister Bernd Wiegand (parteilos). „Die zeigt sich immer dann, wenn Jüdinnen und Juden angegriffen werden. Ganz gleich, wo.“ Man werde sofort an die Ereignisse von damals erinnert, erzählt Wiegand. „Die Stadt hält dann den Atem an.“
„Normaleren Umgang finden“
Zum ersten Jahrestag im vergangenen Jahr hatten viele Spitzenpolitiker Halle besucht, Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier war dabei. Mit staatlichen Zeremonien und emotionalen Gesten war den Opfern des rechtsterroristischen Anschlags gedacht worden. Sachsen-Anhalts Ansprechpartner für jüdisches Leben und gegen Antisemitismus, Wolfgang Schneiß, sieht jetzt die Suche nach den künftigen Wegen.
„Wir müssen schon den Weg in einen - in Anführungszeichen - normaleren Umgang damit finden. Von daher finde ich das Format in diesem Jahr ganz gut“, sagt Schneiß. Der Ministerpräsident werde da sein, es werde aber auch offen vor der Synagoge und vor dem Kiez-Döner erinnert. „Aber es wird auch deutlich stiller sein als im letzten Jahr.“
7 Okt. 2021

„Der Stadt eine Narbe zugefügt“: Halle gedenkt des Synagogen-Anschlags
In Halle an der Saale jährt sich am Samstag zum zweiten Mal der Anschlag von Jom Kippur 2019. Die Erinnerung daran ist immer noch präsent. Nun suchen Betroffene und die Stadt nach einer passenden Form, diese auch künftig wachzuhalten.
dpa
Ähnliche Nachrichten

Mölln gedenkt der Opfer des rassistischen Brandanschlages von 1992
Die Stadt Mölln gedenkt am Dienstagabend der Opfer des rassistischen Brandanschlages vom 23. November. Damals starben drei Türkinnen, darunter zwei Kinder. Beide für die Tat verantwortliche Neonazis sind längst wieder aus ihrer Haft entlassen.

Österreich: Gedenken an Roma-Attentatsopfer im Oberwart des Jahres 1995
Das Attentat auf vier Angehörige der Volksgruppe der Roma im Jahr 1995 gilt als eines der schlimmsten rassistischen Verbrechen der Zweiten Republik Österreichs. Erstmals wird auch ein katholischer Generalvikar die Gedenkzeremonie mitbegehen.

Pogromnacht: Gedenken an sephardisch-türkische Synagoge in Wien
Anlässlich des Jahrestages der Reichspogromnacht wurde in Wien der Zerstörung der sephardisch-türkischen Synagoge 1938 gedacht. Neben Bürgermeister Ludwig und Vertretern der jüdischen Gemeinde war auch die Türkei mit Botschafter Ceyhun zugegen.
Selbe Kategorie

Rekord bei Austritten - 359.000 Katholiken verlassen ihre Kirche
Dass immer mehr Katholiken aus der krisengeschüttelten Kirche austreten, überrascht nicht einmal mehr die deutschen Bischöfe. Die nun veröffentlichten Zahlen zeigen aber ein nie gekanntes Ausmaß - und der Tiefpunkt ist womöglich noch nicht erreicht.

UN-Drogenbericht: Cannabis-Konsum belastet Gesundheitssysteme
Die Vereinten Nationen warnen vor den Folgen von immer stärkerem und legal verfügbarem Cannabis. Doch auch härtere Drogen geben Anlass zur Sorge. Denn diese tauchen, wie der jüngst erschienene UNOCD-Bericht erläutert, auf neuen Absatzmärkten auf.

21. Jahrestag: NSU-Trio ermordet Süleyman Taşköprü in Hamburg
Der rechtsextreme Mord an Süleyman Taşköprü jährt sich zum 21. Mal. Am 27. Juni 2001 hatten Neonazis aus rassistischen Motiven den damals 31-Jährigen mit drei Kugeln in seinem Laden ermordet. Taşköprü war das dritte Opfer der NSU-Mordserie.
Worüber möchten Sie mehr erfahren?
Beliebt

Rekordzahl: Weltweit über 45 Millionen Binnenflüchtlinge
Eine Rekordzahl von Menschen ist wegen Konflikten und Katastrophen auf der Flucht im eigenen Land. Das Schicksal derer, die vertrieben aber nicht über Grenzen geflüchtet sind, werde international zu wenig beachtet, erklärt eine Hilfsorganisation.