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TÜRKİYE
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Eine Welt im Übergang: Neue Unsicherheiten, neue Abhängigkeiten
Die globale Ordnung gerät ins Rutschen und Deutschlands außenpolitischer Handlungsspielraum schrumpft. Inmitten neuer Machtverschiebungen rückt Türkiye als geopolitischer Referenzpunkt zunehmend in den Fokus Europas.
Eine Welt im Übergang: Neue Unsicherheiten, neue Abhängigkeiten
Eine Welt im Übergang: Neue Unsicherheiten, neue Abhängigkeiten / Foto: Reuters / Reuters
vor 9 Stunden

Die internationale Ordnung befindet sich in einer Phase tiefgreifender Neujustierung. Sicherheitspolitik, Wirtschaftsbeziehungen und Technologiefragen greifen zunehmend ineinander. Entscheidungen, die lange auf stabilen Bündnissen beruhten, werden heute unter Bedingungen wachsender Unsicherheit getroffen. Für Deutschland bedeutet dieser Wandel vor allem eines: Außenpolitische Gewissheiten, die über Jahrzehnte als stabil galten, verlieren an Tragfähigkeit.

Ein zentraler Referenzpunkt dieser Entwicklung ist die neue Sicherheitsstrategie der USA. Sie verschiebt globale Prioritäten deutlich. Der strategische Wettbewerb mit China steht im Zentrum, militärische Abschreckung gewinnt an Gewicht, während Fragen von Klima, Entwicklung und multilateraler Ordnung an relativer Bedeutung verlieren. Europa erscheint in diesem Rahmen nicht mehr als gleichrangiger Akteur, sondern zunehmend als nachgeordneter Partner.

Diese Verschiebung wirkt sich direkt auf das transatlantische Verhältnis aus. Die Partnerschaft entwickelt sich weg von einer wertebasierten Allianz hin zu einer pragmatischen, interessengeleiteten Beziehung. Signale aus Washington – auch im Umfeld der Münchner Sicherheitskonferenz – haben diesen Eindruck verstärkt. Sicherheitsgarantien wirken konditionaler, politische Rücksichtnahme selektiver. Europa soll mehr Verantwortung übernehmen, ohne dass entsprechende militärische und politische Kapazitäten in gleichem Maße vorhanden sind.

Deutschlands strategische Zwangslage zwischen Russland, China und den USA

Für Deutschland verschärft diese globale Verschiebung bestehende strukturelle Spannungen. Das Verhältnis zu Russland ist von historischer Erfahrung, energiepolitischen Altlasten und innenpolitischer Vorsicht geprägt. Diese Faktoren beeinflussen bis heute die Bereitschaft zu einer klaren militärischen und politischen Konfrontation.

Gleichzeitig verfolgt Deutschland gegenüber China einen ambivalenten Kurs. China ist zugleich zentraler Handelspartner, Produktionsstandort und systemischer Rivale. Diese Doppelrolle erschwert eine klare strategische Positionierung. Wirtschaftliche Abhängigkeiten – insbesondere in Industrie, Export und Lieferketten – begrenzen außenpolitische Handlungsspielräume und verstärken strategische Vorsicht.

Damit befindet sich Deutschland in einer spezifischen geopolitischen Konstellation: sicherheitspolitisch stark an die USA gebunden, wirtschaftlich eng mit China verflochten und gegenüber Russland strukturell zurückhaltend. Diese Mehrfachabhängigkeit reduziert außenpolitische Flexibilität. In einer Welt zunehmender Blockbildung wird strategische Mehrgleisigkeit schwieriger – insbesondere für Staaten, deren wirtschaftliches Modell auf Offenheit und Stabilität angewiesen ist.

Der Verlust europäischer Sonderstellung und der Blick aus dem Globalen Süden

Während Europa lange von einer besonderen Stellung innerhalb des westlichen Machtgefüges profitierte, verliert diese Vorzugsbehandlung zunehmend an Bedeutung. In vielen Teilen des Globalen Südens wird diese Entwicklung weniger als Bruch denn als Normalisierung wahrgenommen. Staaten in Afrika, Asien und Lateinamerika sind seit Langem daran gewöhnt, ohne Sonderstatus zu agieren und ihre Interessen in einer rauen internationalen Umgebung selbst abzusichern.

Diese Perspektive verändert auch den Blick auf europäische Außenpolitik. Forderungen nach Augenhöhe und gegenseitigem Respekt erhalten neue Bedeutung. Gleichzeitig stößt normativ geprägte Außenpolitik dort an Grenzen, wo existenzielle Sicherheits-, Entwicklungs- und Stabilitätsinteressen dominieren. Europas aktuelle Erfahrungen ähneln zunehmend den außenpolitischen Realitäten jener Staaten, denen es lange Ratschläge erteilte.

In diesem Kontext wächst der Druck auf Deutschland und Europa, ihre Rolle neu zu definieren. Außenpolitik wird weniger zur Frage moralischer Positionierung als zur Frage funktionaler Interessen, strategischer Resilienz und glaubwürdiger Partnerschaften.

Türkiye als Vergleichs- und Referenzpunkt in einer fragmentierten Ordnung

Vor diesem Hintergrund rückt Türkiye verstärkt in den Blick. In der gegenwärtigen geopolitischen Konstellation nimmt das Land eine besondere Position ein. Türkiye unterhält gleichzeitig belastbare Beziehungen zu den USA, zu Russland und zu China. Diese Beziehungen basieren nicht auf exklusiven Bündnissen, sondern auf situativer Kooperation, strategischer Autonomie und Interessenabgleich.

Die Außenpolitik von Türkiye operiert parallel in mehreren geopolitischen Räumen: innerhalb der NATO, in der Schwarzmeerregion, im Nahen Osten, im Kaukasus, in Afrika und in Zentralasien. Diese Mehrdimensionalität ist kein Ausnahmezustand, sondern struktureller Bestandteil türkischer Außenpolitik. Türkiye ist daran gewöhnt, sicherheitspolitische Risiken, wirtschaftliche Interessen und diplomatische Balanceakte gleichzeitig zu managen.

Auch im Bereich Sicherheit und Verteidigung verfügt Türkiye über spezifische Kapazitäten. Mit einer der größten Streitkräfte innerhalb der NATO und operativer Erfahrung in mehreren Konfliktregionen hat das Land seine sicherheitspolitische Handlungsfähigkeit ausgebaut. Parallel dazu wurde in den vergangenen Jahren die eigene Verteidigungsindustrie systematisch gestärkt. Unbemannte Systeme, elektronische Kriegsführung und maritime Plattformen gehören inzwischen zum Produktions- und Exportportfolio.

Diese Fähigkeiten verschaffen Türkiye Handlungsspielräume, die über klassische Diplomatie hinausgehen. Sicherheitspolitik wird nicht nur verhandelt, sondern auch operativ umgesetzt – ein Ansatz, der in einer fragmentierten Weltordnung an Bedeutung gewinnt.

Wirtschaft, Geografie und Europas offene Optionen

Auch wirtschaftlich gewinnt Türkiye in der aktuellen Lage an Bedeutung. Deutschland sucht angesichts geopolitischer Risiken nach Alternativen zu stark konzentrierten Lieferketten. Türkiye verfügt über eine diversifizierte industrielle Basis, eine junge Erwerbsbevölkerung und eine ausgeprägte Produktionsinfrastruktur. Die bestehende Zollunion hat tiefe wirtschaftliche Verflechtungen geschaffen, insbesondere in Industrie-, Technologie- und Zulieferbereichen.

Hinzu kommt die geografische Lage von Türkiye. Das Land verbindet Europa mit dem östlichen Mittelmeer, dem Schwarzen Meer, dem Nahen Osten, dem Kaukasus und Zentralasien. Energie-, Transport- und Datenkorridore verlaufen zunehmend über das Territorium von Türkiye. Diese Konnektivität ist für Europas Energie- und Versorgungssicherheit von strategischer Bedeutung.

Darüber hinaus hat Türkiye ihre diplomatische Präsenz im Globalen Süden in den vergangenen zwei Jahrzehnten deutlich ausgebaut. In vielen Ländern Afrikas, Asiens und Lateinamerikas wird Türkiye als pragmatischer Akteur wahrgenommen, der weniger mit normativen Vorgaben als mit konkreten Kooperationsangeboten auftritt. Diese Wahrnehmung unterscheidet sich von jener Europas, das häufig mit Bedingungen, Standards und langwierigen Verfahren assoziiert wird.

Die Beziehungen zwischen der EU und Türkiye sind seit Jahren von Stagnation geprägt. Der Stillstand wirkt sich zunehmend auf die außenpolitische Glaubwürdigkeit Europas aus. Die Wiederaufnahme technischer Gespräche und einzelner Kapitelverhandlungen würde keine automatische Beitrittszusage bedeuten, könnte jedoch institutionelle Kommunikation reaktivieren und strategische Handlungsfähigkeit signalisieren. Deutschland kommt dabei als richtungsweisender Akteur innerhalb der EU eine zentrale Rolle zu.

Die internationale Ordnung befindet sich nicht in einem stabilen Endzustand, sondern in einer Phase offener Neujustierung. Für Deutschland stellt sich weniger die Frage nach schnellen Antworten als nach langfristiger Anpassungsfähigkeit. In einer Welt wachsender Unsicherheit gewinnen flexible Partnerschaften, funktionale Kooperationen und strategische Offenheit an Bedeutung. Welche Rolle Akteure wie Türkiye dabei spielen, bleibt Teil einer sich neu formierenden globalen Konstellation.