Nach der Ministerpräsidentenwahl in Thüringen (dpa)
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Nach der kontroversen Wahl von Thomas Kemmerich (FDP) zum Thüringer Ministerpräsidenten und seinem angekündigten Rückzug hat ihm der Fraktionschef der Thüringer Grünen am Freitag Täuschung vorgeworfen. „Wir müssen feststellen, dass er seinen Rücktritt nicht eingereicht hat“, sagte Dirk Adams, Fraktionsvorsitzender der Grünen im Thüringer Landtag.

„Herr Kemmerich hat die Öffentlichkeit getäuscht“, unterstrich der Grünen-Politiker in Erfurt. Lege Kemmerich sein Amt nicht bis Sonntag nieder, wolle man „alle parlamentarischen Möglichkeiten nutzen, um Herrn Kemmerich unter Druck zu halten“, sagte Adams.

Thüringer Spitzenvertreter von Linke, SPD und Grüne hatten Kemmerich gemeinsam am Donnerstag aufgefordert, sein Amt als Ministerpräsident bis Sonntag niederzulegen. Thüringens SPD-Landeschef Wolfgang Tiefensee sagte, die Botschaft sei: „Rücktritt - und zwar eine Aussage bis Ende Sonntag.“

Gestürzt werden könnte Kemmerich über einen Misstrauensantrag. Damit dieser glückt, ist aber eine absolute Mehrheit nötig - also 46 Stimmen. Linke, SPD und Grüne kommen aber nur auf 42 Stimmen.

CDU macht Rückzieher: Keine Neuwahl

Vor Beratungen des CDU-Präsidiums über das weitere Vorgehen nach der Ministerpräsidenten-Wahl in Thüringen ist Parteichefin Annegret Kramp-Karrenbauer dem Landesverband entgegenkommen. Sie drängt vorerst nicht mehr auf eine Neuwahl. Nach fünfstündigen Krisengesprächen räumte sie in der Nacht zum Freitag den Parteifreunden in Erfurt Zeit ein, einen parlamentarischen Weg aus der Krise zu finden. Sollten die parlamentarischen Möglichkeiten nicht funktionieren, sei eine Neuwahl unausweichlich, so Kramp-Karrenbauer.

Das CDU-Präsidium berät am Vormittag in Berlin über das weitere Vorgehen. Spannend wird sein, wie Kramp-Karrenbauer mit ihrem Erfurter Gesprächsergebnis dort ankommt. Das Präsidium hatte anfänglich auf ihre Initiative hin eine sofortige Neuwahl empfohlen.

SPD von CDU irritiert

Die Ereignisse in Thüringen belasten nach Ansicht der SPD-Chefs Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans auch die große Koalition. „Es gibt eine Menge Fragen, die beantwortet werden müssen, um das Vertrauensverhältnis zu klären“, sagte Esken der Deutschen Presse-Agentur. Derzeit wüssten sie nicht, „woran wir sind mit der CDU“. Um das zu klären, hat die SPD für Samstag einen Koalitionsausschuss durchgesetzt.

Die SPD Thüringen erteilte inzwischen der CDU-Parteichefin eine Abfuhr. Zuvor schlug Annegret Kramp-Karrenbauer vor, dass Grüne oder SPD einen Kandidaten als Ministerpräsidenten vorschlagen sollten. Der SPD-Chef des ostdeutschen Bundeslandes Wolfgang Tiefensee kommentierte den Vorschlag auf Twitter als „untauglichen Versuch“, Rot-Rot-Grün zu spalten, schreibt der „Focus“. Tiefensee kommentierte weiter: „Der beste Weg ist eine Selbstauflösung des Landtages und Neuwahlen.“

CDU-Fraktionschef von Thüringen tritt zurück

Inzwischen reagierte der Fraktionschef der CDU im Thüringer Landtag mit einem ungewöhnlichen Schritt. Der Generalsekretär der CDU Thüringen Raymond Walk erklärte am Freitag auf Twitter, dass Mike Mohring sein Amt als Fraktionschef aufgibt. Er wird bei den Neuwahlen zum CDU-Fraktionsvorstand Thüringen nicht mehr antreten.

Auch die FDP-Spitze kommt am Freitag zu Beratungen zusammen. Parteichef Christian Lindner will die Vertrauensfrage stellen. Er war unter Druck geraten, nachdem der FDP-Politiker Thomas Kemmerich am Mittwoch überraschend mit Stimmen von AfD, Union und FDP in Thüringen zum Regierungschef gewählt worden war. Lindner war am Donnerstag zu Krisengesprächen nach Erfurt gereist. Parteivize Katja Suding sagte dem Nachrichtenportal „Watson“, es sei wichtig gewesen, dass Lindner Kemmerich „zum Rücktritt bewegen konnte“. Sie fügte hinzu: „Das war wichtig als Signal dafür, dass die FDP nichts mit der AfD zu tun hat.“

Kanzlerin Angela Merkel (CDU) hatte die Wahl Kemmerichs mithilfe von Stimmen der CDU und der AfD zuvor „unverzeihlich“ genannt und verlangt, das Ergebnis dieses Vorgangs müsse korrigiert werden.

Neuwahl vermeiden: CDU fürchtet Wählerverluste


Eine parlamentarische Lösung in Thüringen könnte darin bestehen, dass Kemmerich seinen Rücktritt erklärt und damit den Weg frei macht für eine erneute Wahl des Ministerpräsidenten im Landtag. Eine andere Möglichkeit wäre, dass Kemmerich die Vertrauensfrage stellt. Beides könnte der Thüringer CDU helfen, da sie ansonsten bei einer Neuwahl des Landtags Wählerverluste befürchtet, während die politischen Ränder, also AfD und Linkspartei, auf Stimmenzuwachs hoffen könnten.

Die Landes-CDU befürchtet bei einer Neuwahl erhebliche Stimmverluste. Bei Neuwahlen in Thüringen könnte Rot-Rot-Grün nach einer aktuellen Umfrage wieder auf eine Mehrheit hoffen. Nach einer am Freitag veröffentlichten Forsa-Umfrage im Auftrag von RTL und n-tv würde die Linke in Thüringen unter dem bisherigen Ministerpräsidenten Bodo Ramelow deutliche Zugewinne verbuchen, während die CDU fast die Hälfte ihrer Wähler verlöre. Die FDP von Kemmerich käme nicht einmal mehr in den Landtag. In diesem Zusammenhang sagte der stellvertretende CDU-Vorsitzende Armin Laschet, dass die Krise auch ohne Neuwahlen gelöst werden könnte. „Wenn er nicht mehr im Amt ist, ist das Problem gelöst“, stellte Laschet im Sinne der CDU-Interessen gegenüber n-tv mit Blick auf Kemmerich in Aussicht.

Spahn will parteiunabhängigen Kandidaten

„Neuwahlen wären in dieser Situation aus meiner Sicht der klarste Schritt nach vorn“, sagte der Gesundheitsminister Jens Spahn vor einer CDU-Präsidiumssitzung in Berlin. „Sollte es dafür keine Mehrheit geben, braucht es eine Operation Mitte in Thüringen. Das heißt, die demokratischen Parteien der Mitte sollten sich auf einen parteiunabhängigen Kandidaten einigen, der in der Lage ist, das Land zu einen.“ Eine Wiederwahl von Bodo Ramelow (Linke) oder eine Inkaufnahme einer Wahl Ramelows wären aus Spahns Sicht „das falsche Signal“.

Historiker: AfD verkörpert „Extremismus der Mitte“

Politiker hatten nach der Wahl Kemmerichs mit AfD-Stimmen auf „Weimarer Verhältnisse“ Bezug genommen. Der ehemalige Bundesinnenminister Gerhart Baum (FDP) etwa hatte gesagt: „Ein Hauch Weimar liegt über der Republik.“

Der Historiker Andreas Wirsching sieht zwar mit Blick auf die Ereignisse in Thüringen keine „Weimarer Verhältnisse“ in Deutschland. „Man sollte in der aktuellen Debatte aufpassen, nicht etwas herbeizureden, was dann am Ende tatsächlich passiert“, warnte der Leiter des Instituts für Zeitgeschichte in München im Gespräch mit der Deutschen Presse-Agentur in Berlin. Jedoch fügte der Historiker hinzu: „Weimar bietet aber Anschauungspotenzial für Gefahren, die auch heute passieren können.“

„Die Gefahr ist eine Lähmung des parlamentarischen Systems in Deutschland“, sagte Wirsching. „Die kann aber nicht dadurch überwunden werden, dass sich nun die Konservativen an die extreme Rechte anbiedern wie damals an die NSDAP. Das führte zu der Katastrophe. CDU und FDP sollten sich heute gerade nicht der AfD andienen.“

Die AfD sei keine bürgerliche Partei, sondern anti-liberal, anti-pluralistisch und anti-demokratisch, sagte Wirsching. „Sie verkörpert einen ‚Extremismus der Mitte‘ und ähnelt damit der NSDAP.“

Wirsching kritisierte abschließend das Verhalten der etablierten Bundesparteien, die sich in Thüringen auf die AfD einließen. Er betonte: „CDU und FDP haben sich zu Geiseln der AfD gemacht. Ich kann mir nicht vorstellen, dass dies ein Zufall war.“

TRT Deutsch und Agenturen