Mario Draghi (l.-r.), Ministerpräsident von Italien, Emmanuel Macron, Präsident von Frankreich, und Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD), reisen von Polen aus mit dem Zug nach Kiew. (dpa)
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Was hat Bundeskanzler Olaf Scholz im Gepäck, wenn er nach Kiew reist? Ganz banal lautet die Antwort erst einmal: Schokoriegel, Gummibärchen und Spätburgunder aus Baden – was man eben so braucht, um eine knapp zehnstündige Zugfahrt zu überstehen. Jörg Kukies und Jens Plötner, die Berater des Kanzlers für Wirtschaft und Außenpolitik, schleppen am späten Freitagabend die Kisten mit Verpflegung über den düsteren Bahnsteig in Przemysl, dem südpolnischen Grenzort zur Ukraine, wo die wohl spektakulärste und vielleicht auch bedeutendste Reise des Kanzlers in seiner politischen Karriere ihren Lauf nimmt. Scholz muss in Polen von seinem Regierungsflieger auf den Zug umsteigen, weil der Luftraum über der Ukraine wegen des Krieges seit fast vier Monaten gesperrt ist. Den beschwerlichen Landweg haben in den ersten Kriegsmonaten etliche Spitzenpolitiker nach Kiew genommen, um dem im Krieg mit Russland befindlichen Land ihre Solidarität zu bekunden - vom polnischen Präsidenten Andrzej Duda über die Vorsitzende des US-Repräsentantenhauses Nancy Pelosi bis zur EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, die schon zwei Mal dort war. Draghi an der Spitze des Zuges – Scholz ganz hinten Diese Reise stellt aber alle bisherigen in den Schatten: Die Chefs der drei bevölkerungsreichsten und wirtschaftsstärksten Länder der Europäischen Union machen sich zusammen auf den Weg durch das Kriegsgebiet: Neben Scholz sind Italiens Ministerpräsident Mario Draghi und Frankreichs Präsident Emmanuel Macron dabei. Alle drei Länder sind Mitglied der G7 demokratischer Wirtschaftsmächte, deren Vorsitzender Scholz derzeit ist. Frankreich hat die EU-Ratspräsidentschaft inne. In Kiew soll noch der rumänische Präsident Klaus Iohannis dazustoßen - als Vertreter der osteuropäischen Länder, die sich besonders von Russland bedroht fühlen. Auf den Gleisen steht ein blauer Sonderzug bereit. Neun Waggons, für jedes Land drei. Draghi darf sich an die Spitze des Zuges setzen, Scholz hat sein Abteil ziemlich weit hinten. In der Mitte lädt Macron kurz hinter der ukrainischen Grenze zum Sechs-Augen-Gespräch in seinen Salon-Wagen. Die Stimmung ist gut, es wird sogar gelacht. Kein „kurzes Rein und Raus mit einem Fototermin“ Es geht nun um die Frage: Was hat Europa für die Ukraine im Gepäck, die sich seit vier Monaten gegen die russische Militäroffensive zur Wehr setzt? Scholz selbst hat die Latte dafür recht hoch gesetzt. „Ich werde mich nicht einreihen in eine Gruppe von Leuten, die für ein kurzes Rein und Raus mit einem Fototermin was machen. Sondern wenn, dann geht es immer um ganz konkrete Dinge“, hatte er seine Zurückhaltung mit Blick auf eine Kiew-Reise einmal erklärt. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hat die Vorlage des Kanzlers kurz vor der Reise aufgenommen. „Wir möchten auch nicht, dass er nur zu einem Foto-Termin kommt“, sagte er in einem ZDF-Interview. „Wir brauchen von Kanzler Scholz die Sicherheit, dass Deutschland die Ukraine unterstützt.“ Es geht um zwei „ganz konkrete Dinge“ bei dieser Reise: Waffen: Die Ukraine fordert sie für ihren Kampf gegen die russischen Streitkräfte. Ein Berater von Selenskyj hatte kürzlich erklärt, die Ukraine brauche 1000 schwere Artilleriegeschütze (Haubitzen), 300 Mehrfachraketenwerfer, 500 Panzer, 2000 gepanzerte Fahrzeuge und 1000 Drohnen, um den Krieg gegen die russischen Armee zu gewinnen. Selenskyj selbst hat immer wieder die Lieferung moderner Luftabwehrsysteme gefordert. Der ukrainische Botschafter in Berlin, Andrij Melnyk, verlangt Kampf- und Schützenpanzer von der Bundesregierung. Scholz ist in seiner Rede in der Generaldebatte des Bundestags Anfang Juni allerdings bereits bis an seine Schmerzgrenze gegangen, was die Waffenlieferungen angeht. Er versprach Mehrfachraketenwerfer, ein modernes Luftabwehrsystem vom Typ Iris-T und das Ortungsradar Cobra. Weitere größere Ankündigungen wären eine Überraschung. EU-Beitritt: Bei diesem Thema ist schon eher etwas möglich. Die Ukraine drängt darauf, dass die EU sie nächste Woche beim Gipfel in Brüssel zum Beitrittskandidaten macht. Die Kommission gibt am Freitag ihre Empfehlung ab. Von der Leyen hat allerdings nach ihrem Kiew-Besuch am vergangenen Freitag sehr deutlich gemacht, dass es ein Ja werden dürfte. „Ich hoffe, dass wir in 20 Jahren, wenn wir zurückblicken, sagen können, dass wir das Richtige getan haben.“ Die Herausforderung werde sein, aus dem EU-Gipfel mit einer einheitlichen Position hervorzugehen, „die die Tragweite dieser historischen Entscheidungen widerspiegelt“. Draghi zählt zu den Befürwortern des Kandidatenstatus, Scholz und Macron bisher noch zu den Skeptikern. Sie könnten nun in Kiew ein Zeichen setzen mit Blick auf den Gipfel setzen. Die Entscheidung muss dann aber einstimmig gefällt werden. Erstes Ergebnis: Diskussion um Kiew-Reisen ist beendet Eines wird Scholz mit seiner Reise aber auf jeden Fall erreichen: Die Diskussion über eine Scholz-Reise nach Kiew wird ein Ende haben. Die ukrainische Bahngesellschaft hat in den Gängen des Zuges Werbeplakate ausgehängt, auf denen eine Auswahl der Kiew-Reisenden zu sehen ist. Überschrift: „Eisenbahn-Diplomatie“. Bisher ist darauf nur ein Deutscher zu sehen: CDU-Chef Friedrich Merz, ganz unten rechts. Möglicherweise wird sein Foto bald ersetzt werden.

dpa