Archivbild. 19.03.2021, Berlin: Annalena Baerbock (l), Bundesvorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen, und Robert Habeck, Bundesvorsitzender von Bündnis 90/Die Grünen, gehen nach der Vorstellung des Entwurfs des Grünen-Wahlprogramms für die Bundestagswahl vor einer riesigen Deko-Sonnenblume. (dpa)
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Es ist ein rhetorischer Drahtseilakt, den Annalena Baerbock und Robert Habeck schon seit Monaten trittsicher absolvieren: Einerseits betonen beide Parteichefs, sie trauten sich das Kanzleramt zu und seien wild entschlossen, es zu erobern. Andererseits verkneifen sie sich (fast) jeden Seitenhieb auf den jeweils anderen. „In bester Laune“ wolle man die Entscheidung über den Spitzenkandidaten zwischen Ostern und Pfingsten gemeinsam treffen, erklärte Baerbock Anfang Januar gewohnt frohen Mutes. Nach Ostern könnte es schnell gehen, ist zu hören.

Die Geschlossenheit der Grünen-Spitze findet Christian Hoffmann, Professor für Kommunikationsmanagement an der Universität Leipzig, beachtlich. „Eine offene Entscheidung wäre ja ein großer Anreiz, sich selbst auf Kosten des anderen nach vorne zu spielen – und das tun beide nicht.“ Das lässt den Experten für politische Kommunikation zweifeln, ob die Kandidatenfrage hinter den Kulissen nicht vielleicht doch schon geklärt ist. So oder so: „Die offene Kandidatenfrage ist eine Belastungsprobe, die manche andere Partei schlechter durchhalten würde.“

Meist sprechen Baerbock und Habeck mit solch nüchterner Distanz über die Entscheidung, als betreffe sie sie gar nicht. „Ich glaube, keinem von uns fällt es schwer zu sagen: Du bist der oder die Richtige“, sagte Baerbock vor kurzem dem „Spiegel“. Um dann doch mal seltene Betroffenheit durchscheinen zu lassen: „Aber natürlich ist es am Ende ein kleiner Stich ins Herz.“

Es klingt entwaffnend ehrlich. Ein ähnlicher Satz aus dem Mund des CDU-Vorsitzenden Armin Laschet oder von CSU-Chef Markus Söder, die beide als Anwärter auf die Spitzenkandidatur der Union gehandelt werden und sich die eine oder andere Spitze nicht verkneifen? Undenkbar – aber für die Ökopartei auch wieder nicht so ungewöhnlich. „Die Grünen sprechen insbesondere junge und weibliche Wähler an und setzen dazu auf zwei sympathische Parteichefs, die auch mal über Persönliches sprechen“, sagt Hoffmann. Baerbock verbindet bildungspolitische Forderungen in der Corona-Krise mit Anekdoten aus dem Bekanntenkreis, Habeck schlägt den Bogen vom eigenen Einkauf im Discounter zu den großen Veränderungsprozessen der Gegenwart.

Mit ihrem weitgehenden Verzicht auf Polemik gegen den politischen Gegner, der demonstrativen Einmütigkeit und dem betonten Blick aufs große Ganze wirken Baerbock und Habeck geradezu staatstragend. Unverzichtbar für eine Partei, die zwar noch nie einen Kanzler gestellt hat, aber nun vermitteln will, dass sie das Land lenken könnte.

„Geschickt von den Grünen, sich Zeit zu lassen mit der Kandidatenkür“

„Es ist geschickt von den Grünen, sich Zeit zu lassen mit der Kandidatenkür“, meint Kommunikations-Experte Hoffmann. „Je früher man jemanden benennt, desto mehr Zeit hat die Öffentlichkeit auch, ihn oder sie genau unter die Lupe zu nehmen.“ Und da wäre sowohl bei Baerbock als auch bei Habeck einiges zu finden: Ihr fehlt Regierungserfahrung, die er als Umweltminister in Schleswig-Holstein gesammelt hat. Dafür verheddert er sich öfter in der eigenen Argumentation, während sie ihre Botschaften detailsicher vermittelt.

Was schwerer wiegt für die Kandidatenkür und bei den Wählerinnen und Wählern ist offen. Die „Zeit“ zitierte einen nicht genannten Grünen jüngst mit der Einschätzung: „Mit Annalena als Spitzenkandidatin

landen wir zwischen 17 und 19 Prozent. Mit Robert zwischen 14 und 24 Prozent.“ Der Argumentation kann Hoffmann etwas abgewinnen: „Habeck bringt mehr unorthodoxen Charme mit. Wenn sich die Grünen für ihn entscheiden, könnten sie vielleicht mehr Stimmen holen – sie könnten aber auch tiefer fallen.“ Die Entscheidung für Habeck brächte sowohl mehr Chance als auch mehr Risiko.

Das Ganze ist ein Luxusproblem, das räumen auch Grüne ein – schließlich stehen da gleich zwei beliebte Führungsfiguren zur Auswahl. Unter Habeck und Baerbock tritt die Partei geeint auf wie schon lange nicht mehr. Öffentliche Flügelkämpfe sind passé. In den Umfragen robben sich die Grünen immer näher an die Union heran, mit Werten von mittlerweile über 20 Prozent.

Ihren Erfolg schreiben die Grünen selbst unter anderem dem wachsenden Bewusstsein für Klima- und Umweltschutz zu. Hoffmann führt ihn eher auf die Wechselstimmung im Land zurück: „Union und SPD wirken abgekämpft. Da bieten die Grünen die Perspektive auf Veränderung ohne einen allzu radikalen Wechsel.“ Die Grünen-Spitze verhalte sich gerade ein wenig so, wie es der heutige US-Präsident Joe Biden im Wahlkampf getan habe: „Sie versuchen vor allem, Fehler zu vermeiden und keine heißen Eisen anzupacken.“ Wie lange das noch klappt, wenn die Kandidatenfrage bei ihnen und der Union geklärt ist, bleibt abzuwarten.

dpa