Arbeiter auf einer Hebebühne nahe dem Reichstagsgebäude in Berlin. (Symboilbild: John MACDOUGALL/AFP) (AFP)
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Der Professor für Öffentliches Recht und Finanzrecht an der Humboldt-Universität zu Berlin Christian Waldhoff hat in der „Welt“ scharfe Kritik an den Zuständen geübt, die am Sonntag die Wahlentscheidungen in Berlin überschattet hatten. Am gestrigen Mittwoch hatte bereits Landeswahlleiterin Petra Michaelis darob ihren Rücktritt erklärt.

In einem früheren Beitrag für den „Verfassungsblog“ hatte Waldhoff Zweifel daran geäußert, dass die Unregelmäßigkeiten, die auch OSZE-Wahlbeobachter im Zusammenhang mit den Wahlen registriert hatten, „Mandatsrelevanz“ besitzen. Nun hat er jedoch gegenüber mehreren Medien die Möglichkeit der Ungültigkeit von Wahlen ins Spiel gebracht. Der Staatsrechtler, der selbst als Wahlhelfer im Einsatz war, spricht von in ihrer Summe relevanten Beeinträchtigungen der Freiheit der Wahl, deren Ursache ein „gravierendes Organisationsverschulden“ durch die Landeswahlleitung gewesen sei.

Gleichheit der Wahl beeinträchtigt?

Waldhoff nimmt insbesondere daran Anstoß, dass bedingt durch Pannen und Verzögerungen Menschen, die vor den Wahllokalen anstehen mussten, nach 18 Uhr potenziell mit mehr Informationen wählen konnten als andere. Zu diesem Zeitpunkten waren die ersten Prognosen und zum Teil auch Hochrechnungen bereits bekannt. Dies beeinträchtige die Gleichheit der Wahl.

„Dass es in der Hauptstadt eines der entwickeltesten Länder der Welt nicht möglich ist, demokratische Wahlen angemessen zu organisieren, ist ein gravierendes Demokratieproblem“, äußert Waldhoff in der „Welt“. Er wirft den Verantwortlichen „Gedankenlosigkeit“ angesichts der Tatsache vor, dass in der Bundeshauptstadt gleich vier Entscheidungen angestanden hatten. Zudem sei es ein Versäumnis gewesen, am selben Tag mit dem Berlin-Marathon eine kommerzielle Sportveranstaltung anzusetzen.

Die Veranstaltung, die mehrere Straßensperren und Umleitungen im Stadtgebiet nach sich gezogen hatte, hatte das Chaos am Wahlsonntag verschärft. In vielen Wahllokalen, in die nicht die korrekten Stimmzettel geliefert oder die passenden ausgegangen waren, verzögerten sich infolge dieser Behinderungen Nachschubslieferungen, was für zusätzliche Wartezeiten sorgte. Mehrere Wähler hätten sogar entnervt den Heimweg angetreten, ohne ihre Stimme abzugeben.

„Auffallend“ hohe Anzahl ungültiger Stimmen

Unterdessen berichtet „rbb“ von weiteren Unregelmäßigkeiten im Zusammenhang mit den Wahlen in Berlin. Eine Datenanalyse habe in mindestens 99 Wahlbezirken „auffallend viele“ ungültige Stimmen erkennen lassen. Dies deute „auf systemische Probleme bei den Wahlen hin“, heißt es in dem Beitrag.

Dem Bericht zufolge seien offenbar nicht nur falsch gelieferte Stimmzettel dafür verantwortlich, die für einen anderen Wahlkreis gedacht waren und deshalb für ungültig erklärt werden mussten. Betroffen seien mindestens 13.120 Stimmen bei allen Wahlgängen gewesen.

Rolfdieter Bohm, der Bezirkswahlleiter von Friedrichshain-Kreuzberg, betonte gegenüber rbb, dass ein Stimmzettel, der sich auf einen anderen Stimmkreis beziehe, ein „nicht amtlich vorgesehener“ und damit ein ungültiger Stimmzettel sei. Selbst wenn der Wählerwille eindeutig sei, der darauf zum Ausdruck gebracht werde, ändere dies nichts daran, dass es sich um einen falschen Stimmzettel handele. Nun müsse in allen Bezirken geprüft, wie oft Fälle dieser Art vorgekommen seien.

Telefonkette sollte Schaden minimieren

„Circa ein Viertel der Wahlvorstände“, mit denen er gesprochen habe, seien mit falschen Wahlzetteln in Berührung gekommen, erläuterte Bohm. Unter anderem seien in Friedrichshain-Kreuzberg in einigen Stimmbezirken Zweitstimmenwahlzettel aus Charlottenburg-Wilmersdorf für die Abgeordnetenhauswahl ausgegeben worden. Bohm habe daraufhin eine Telefonkette initiiert, um den Schaden zu minimieren. Laut vorläufigem amtlichem Endergebnis wurden im Wahlkreis 1 in Friedrichshain-Kreuzberg 607 Zweitstimmen ungültig gewertet.

Auch in Neukölln wird in zwei Bezirken vorsorglich nachgezählt, kündigte die dortige Bezirkswahlleitung an, nachdem Datenanalysten des rbb am Dienstag in drei Fällen statistische Auffälligkeiten moniert hatten. In weiterer Folge musste unter anderem eine Schnellmeldung aufgrund eines Zahlendrehers korrigiert werden, aufgrund dessen nur vier statt tatsächlich 104 ungültige Stimmen ausgewiesen wurden.

„Geschätzte“ Ergebnisse in der Wahlnacht

Für weitere Irritationen sorgte die Meldung identischer Wahlergebnisse durch das Wahlamt für 22 Wahlbezirke. Zudem hätten dort in allen Fällen 360 gültige 40 ungültigen Stimmen gegenübergestanden, was einem Anteil von zehn Prozent gleichgekommen wäre. In einzelnen Wahllokalen ist die Zahl der ungültigen Stimmen gegenüber 2016 um bis zu 39,9 Prozent gestiegen.

Nun hat der Bezirkswahlleiter von Charlottenburg-Wilmersdorf, Felix Lauckner, auf Nachfrage eingeräumt, dass in der Wahlnacht „geschätzte“ Ergebnisse übermittelt worden wären. Dies sei – wenn keine „Mandatsrelevanz“ vorliege – zulässig, sofern „in der Wahlnacht von einzelnen Wahlvorständen abschließend keine Ergebnisse gemeldet werden“. Die tatsächlichen Ergebnisse sollen demnach im Verlaufe der Woche „nacherfasst“ werden.

Die Landeswahlleitung soll bereits im August darüber unterrichtet worden sein, dass Stichproben falsch zugeordnete Stimmzettel in vielen beschrifteten Schachteln erkennen ließen. Diese soll es, so Bohm, in weiterer Folge dabei belassen haben, ein Hinweisblatt an die Wahlvorstände zu reichen, auf dem sinngemäß zur Prüfung aufgefordert wurde, ob die Stimmzettel passen. Allerdings sei diese Information offenbar nicht überallhin durchgedrungen. Auch wegen Corona, so Bohm, hätten einige Schulungen von Wahlleitern unterbleiben müssen.

TRT Deutsch