Kaum ein Tag vergeht in Brüssel, an dem EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen nicht vor eine Kamera tritt. Ihre Botschaft: „Team Europa“ steht fest an der Seite der Ukraine. Doch die Halbzeitbilanz der 63-Jährigen fällt durchwachsen aus. Nicht nur von der Berliner „Ampel“ gibt es Kritik an von der Leyens Führungsstil, auch aus den eigenen Reihen.
Die frühere deutsche Verteidigungsministerin von der CDU bekleidet das Brüsseler Spitzenamt seit dem 1. Dezember 2019. Zweieinhalb ihrer fünf Amtsjahre sind am 1. Juni vorbei. Von Anfang an musste sich von der Leyen als Krisenmanagerin bewähren. Erst in der Corona-Pandemie, nun im russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine.
Eine Sache hat von der Leyen Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) voraus: Schon früh besuchte sie den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj. Dabei stellte sie seinem Land einen EU-Beitritt in Aussicht. „Wir wollen sie drin haben“, hatte sie über die Ukraine schon wenige Tage nach dem russischen Angriff gesagt.
In Berlin und Paris stieß das Vorpreschen der Kommissionspräsidentin auf wenig Gegenliebe. Bei der EU-Erweiterung haben die Mitgliedsländer das Sagen. Scholz und auch der französische Präsident Emmanuel Macron betonen seitdem immer wieder, ein Beitritt sei ein langwieriger Prozess.
Missmanagement und „SMS-Affäre“
Auch bei den EU-Sanktionen gegen Russland machte von der Leyen zuletzt eine unglückliche Figur: Das von ihr vorgeschlagene Ölembargo ist blockiert. Nicht nur Ungarn leistet Widerstand, auch die Slowakei, Tschechien und Bulgarien fordern Hilfe bei der Abkehr von russischem Öl. Von der Leyen habe den Einfuhrstopp schlecht vorbereitet, heißt es in Brüssel.
Zudem hängt der Kommissionspräsidentin eine mögliche „SMS-Affäre“ aus der Corona-Pandemie nach. Die EU-Bürgerrechtsbeauftragte dringt nach einer Journalisten-Beschwerde auf die Herausgabe womöglich brisanter Textnachrichten, die von der Leyen mit der Chefetage des Impfstoffhersteller Pfizer in den USA austauschte.
Die Kommission jedoch hält die SMS ebenso geheim wie die Lieferverträge mit Pfizer, Moderna und Co. Wie viele Milliarden die Pandemie die europäischen Steuerzahler gekostet hat, ist unklar. Von der Leyen sollte die Impfstoffe beschaffen, doch dies lief anfangs schleppend. Von Kanzler Scholz heißt es, er sei deshalb in Berlin einmal regelrecht ausgerastet.
Die „Ampel“ sieht bei der CDU-Frau häufiger rot. Wenn ein Kommissionsvorschlag missfällt, ist in Berlin von einer „typischen von der Leyen-Idee“ die Rede. Gerade erst erteilte Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) ihrem Vorstoß für Gemeinschaftsschulden zum Wiederaufbau der Ukraine eine Absage.
Viele aus Ampel-Parteien sehen von der Leyen als Überbleibsel der Merkel-Ära
Bei SPD, Grünen und FDP sehen einige von der Leyen als Überbleibsel der Ära von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU), wenn nicht gar als Altlast. Merkel setzte ihre angeschlagene Verteidigungsministerin mit Macron in einem Hinterzimmerdeal beim EU-Gipfel im Juni 2019 durch, gegen Proteste des Koalitionspartners SPD.
Zu von der Leyens EU-Vorzeigeprojekten zählte unter anderem der Klimaschutz, den sie mit der Mondlandung verglich. Doch wegen der Energiekrise ist kaum mit großen Sprüngen zu rechnen. Bei einem anderen Schlüsselthema, dem Rechtsstaatsstreit mit Ungarn und Polen, werfen ihr auch Christdemokraten im Europaparlament Zögerlichkeit vor.
In Brüssel hat sich die siebenfache Mutter ein kleines Apartment neben ihrem Büro im 13. Stock des Kommissionsgebäudes einrichten lassen - mit einem weiten Blick über Brüssel. Für die zweite Hälfte ihrer Amtszeit wünschen viele ihr auch politisch mehr Weitblick.
21 Mai 2022
AFP
Ähnliche Nachrichten
Lettlands Regierungschef rechnet mit Kampfjet-Lieferung an die Ukraine
Der lettische Regierungschef Karins rechnet mit der Lieferung von Kampfflugzeugen durch den Westen an die Ukraine. Zudem fordert er Deutschland auf, mehr für die europäische Verteidigung zu tun und eine Brigade in Litauen zu stationieren.
Selbe Kategorie
Umfrage: In Deutschland geringes Interesse an Europawahl
Fast ein Fünftel der erwachsenen Bundesbürger interessiert sich laut einer Umfrage kaum für die bevorstehende Europawahl. Während das Interesse bei Anhängern der Grünen besonders groß ist, fällt es bei konservativen Wahlberechtigten eher gering aus.
Polens Außenminister: Deutschland zögert bei Waffenlieferungen
Polens Außenminister Sikorski drängt auf die Lieferung von Taurus-Marschflugkörpern an die Ukraine. Er kritisiert die langen Entscheidungsprozesse der Bundesregierung und ruft zur militärischen Stärke gegenüber der Bedrohung durch Russland auf.
Macron schließt Bodentruppen in der Ukraine erneut nicht aus
Vor dem Treffen mit Scholz betont Macron, dass der Einsatz westlicher Bodentruppen in der Ukraine möglich sei - auch wenn er diesen Schritt derzeit nicht wolle. Der Staatschef fordert mehr Entschlossenheit, um einen Sieg Russlands zu verhindern.
Taurus-Debatte: David Cameron schlägt Ringtausch mit Deutschland vor
Um Kiew im Krieg gegen Russland zu helfen, schlägt der britische Außenminister Cameron einen Ringtausch vor: Deutschland soll seine Taurus-Marschflugkörper an Großbritannien abgeben. Im Gegenzug soll die Ukraine weitere Storm-Shadow-Raketen erhalten.
Worüber möchten Sie mehr erfahren?
Beliebt
Iran: Rätselhafte Vergiftungswelle beunruhigt die Bevölkerung
Bei einer landesweiten Anschlagswelle im Iran wurden Hunderte Schulmädchen vergiftet. In Regierungskreisen werden Extremisten dahinter vermutet. Eine offizielle Stellungnahme aus Teheran steht aber noch aus. Die Wut und Sorge der Eltern wächst.