Algerien Unabhängigkeitstag (dpa)
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Die Marktstadt Setif liegt auf einer erhöhten, staubigen Hochebene. Diese unscheinbare Stadt, die einst von Churchills Ministerresidenz in Nordafrika als „unbedeutende Stadt“ beschrieben wurde, sollte zum Schauplatz des Massakers von Setif (1945) an 45.000 Algeriern werden.

Das Massaker setzte damals die Zahnräder für einen langwierigen Unabhängigkeitskampf in Gang, der am 5. Juli 1967 endete. Doch viele Algerier behaupten, dass er noch lange nicht vorbei ist.

Am 8. Mai 1945 stand Algerien am Rande der Unruhen. Die Bevölkerung hatte in den den Kriegsjahren unter den zwei aufeinander folgenden Missernten schwer gelitten. Die französische Regierung in Vichy hatte die Notrationen anderweitig aufgebraucht.Der Schwarzmarkt florierte zwar, aber er war für die meisten Algerier unerschwinglich.

Wie das Massaker ausgelöst wurde, ist unklar. In einem Bericht heißt es, dass ein Polizist bei Protesten die Nerven verlor und einen jungen Mann in den Bauch schoss, woraufhin es zu Gewaltausbrüchen gekommen sei. Französische Beamte berichten, dass 103 Europäer ermordet wurden. Am Ort des Protests selbst wurden fast 8000 Algerier getötet.

Es folgten Repressionen durch Frankreich. 400.000 französische Soldaten wurden herbeigerufen, die die Menschen in den Dörfern systematisch terrorisierten. Mehr als vierzig Städte wurden aus der Luft und vom Meer aus bombardiert.

General De Gaulle, der damalige Chef der provisorischen Regierung in Frankreich, ordnete Schnellhinrichtungen und eine „Säuberung“ der umliegenden Dörfer und Gebiete an.

Unabhängigkeitskrieg kostete 1,5 Millionen Algeriern das Leben

Sechzehn Tage später waren 45.000 algerische Männer, Frauen und Kinder in Setif, Guelma und Kherrata als Vergeltung für angeblich 103 getötete Europäer hingerichtet worden.

Neun Jahre später begann der Unabhängigkeitskrieg, der das Leben von 1,5 Millionen Algeriern kostete - bis 1962 die Unabhängigkeit erlangt wurde.

Diese Zahl macht nur einen Teil der Gesamtzahl der Todesopfer in der Region aus. Die algerischen Behörden behaupten, in den 132 Jahren der französischen Kolonisation seien mehr als fünf Millionen Menschen gestorben.

Die Landeinnahme ging nach dem Massaker unvermindert weiter. 1954 hatte das Land nur Nahrung für zwei bis drei Millionen Menschen zur Verfügung – bei einer Bevölkerung von neun Millionen. Neunzig Prozent der Ressourcen waren im Besitz von 10 Prozent der Bevölkerung, wovon nur wenige Algerier waren.

Auch die Arbeitslosigkeit war weit verbreitet. Dem Maspetiol-Bericht von 1955 zufolge waren eine Million Algerier arbeitslos, während weitere zwei Millionen (20 Prozent der arabischen Bevölkerung) nicht mehr als 65 Tage im Jahr arbeiteten.

Wenn ein Algerier in der Lage war, Arbeit zu finden, verdiente er nicht mehr als 100 Franc pro Tag - heute etwa 0,06 Dollar. Während das Durchschnittseinkommen eines Algeriers etwa 16.000 Franc pro Jahr betrug, verdiente ein Europäer fast 450.000.

Die Steuersysteme waren gleichermaßen parteiisch. Die Algerier zahlten fast 12 Prozent an Steuern. Jemand, der fünfmal mehr verdiente, zahlte weniger.

Analphabetismus war weit verbreitet. Bis 1954 besuchte durchschnittlich nur jeder fünfte Algerier eine Schule. Der Analphabetismus unter den Algeriern erreichte einen Höchststand von 94 Prozent bei den Männern und 98 Prozent bei den Frauen. 1892 hatte Frankreich 2,5 Millionen Franc für die Schulausbildung französischer Kinder zur Verfügung gestellt - für die zahlreicheren Algerier wurden lediglich 450.000 Franc.

Auslöschung jeglichen kulturellen oder religiösen Erbes

Für die französischen Kolonialverwalter war die Assimilierung der „Araber“ nahezu unmöglich. Die Lösung bestand in der Zersplitterung, Unterwerfung und Auslöschung jeglichen kulturellen oder religiösen Erbes der Algerier.

Der algerische Präsident hat die ehemalige Kolonialmacht Frankreich wiederholt zu einer Entschuldigung für die Besetzung Algeriens aufgefordert. „Wir haben schon halbe Entschuldigungen bekommen. Der nächste Schritt ist notwendig, wir warten auf ihn“, sagte Abdelmadjid Tebboune zuletzt am Samstag dem Sender France 24. Frankreich hatte zuvor nach 170 Jahren die sterblichen Überreste von 24 algerischen Unabhängigkeitskämpfern an Algerien überstellt.

Die Schädel von algerischen Freiheitskämpfern waren zuvor jahrelang in einem Pariser Museum ausgestellt worden.

Frankreich hat sich bisher auch noch nicht mit seiner Rolle bei der Durchführung von 17 Atombombentests in Algerien (1960 – 1966) befasst. Nach Expertenangaben führten diese zu 42.000 Toten. Die Algerier sind seitdem mit einer höheren Krebs- und Mutationsrate konfrontiert.

Den Gräueltaten, Vergewaltigungen, Verstümmelungen, Hinrichtungen und Folterungen durch das französische Regime wurde bisher sehr wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Trotz einer großen Anzahl von Dokumenten, Zeugenaussagen und Aufnahmen sowohl von Franzosen als auch von Algeriern.

Zehntausende politische Gefangene wurden in Strafkolonien nach Französisch-Guayana und Neukaledonien verschleppt. Das Leben dort wurde in dem berühmten Roman und späteren Film Papillon (1973) dokumentiert. Erst in jüngster Zeit beginnen die Nachkommen in dritter und vierter Generation, sich wieder mit ihrer Heimat und Vergangenheit auseinanderzusetzen.

Während sich Frankreich noch immer nicht mit seinen Kolonialverbrechen ausreichend auseinandersetzt, kämpfen die Algerier bis heute mit ihren Traumata und den Auswirkungen.


TRT Deutsch und Agenturen