23.06.2022, Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf: Hendrik Wüst (CDU, r), Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen, und Mona Neubaur (Bündnis 90/Die Grünen), Vorsitzende ihrer Partei in Nordrhein-Westfalen, stellen den Koalitionsvertrag von Schwarz-Grün in NRW vor. (dpa)
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Bei den Landtagswahlen am 15. Mai ging die CDU unter dem 46-jährigen Ministerpräsidenten Hendrik Wüst als Sieger hervor. Die Christdemokraten bekamen 35,7 Prozent der Stimmen. Die Grünen erreichten 18,2 Prozent, was fast eine Verdreifachung ihres Ergebnisses von 2017 bedeutete. Somit rückten sie hinter den abgestürzten Sozialdemokraten, die nur auf 26,7 Prozent kamen, auf den dritten Platz vor. CDU und Grüne können im neuen Fünf-Parteien-Parlament auf eine komfortable Mehrheit mit 17 Stimmen blicken, gemeinsam belegen sie 115 der 195 Sitze im Düsseldorfer Landtag.

In den nahezu geräuschlosen Koalitionsverhandlungen hatten sich die beiden Regierungspartner darin geeinigt, dass die CDU künftig acht Ministerposten erhält. Die Grünen mussten sich mit vier Kabinettsposten begnügen, allerdings mit beträchtlichen Erweiterungen und Einflussmöglichkeiten. So ist NRW neben Hessen, Baden-Württemberg und künftig auch Schleswig-Holstein das vierte Bundesland, in dem eine Koalition aus CDU und Grünen regiert.

Grüne Handschrift nicht zu übersehen

Der 146 Seiten starke Koalitionsvertrag, dem die Partner den Namen „Zukunftsvertrag für Nordrhein-Westfalen“ gaben, wurde von den jeweiligen Parteitagen der CDU und Grünen in Bonn und Bielefeld angenommen. Die grüne Handschrift ist in der Vereinbarung, die bis 2027 gelten soll, deutlich zu erkennen. Die Grünen haben ihre Position als „Königsmacher“ offenkundig klug ausgeschöpft. Es war aber auch kein Geheimnis, dass die CDU den Grünen inhaltlich weit entgegenkommen musste, um eine Regierungsbeteiligung nicht aufs Spiel zu setzen. Etwa vier Wochen lang haben die Parteien in 13 Facharbeitsgruppen mit mehr als 150 Mitwirkenden diskret verhandelt. So sagte der sichtlich erleichterte alte und neue NRW-Ministerpräsident Hendrik Wüst bei der Vorstellung des Koalitionsvertrags, CDU und Grüne wollten NRW zum „ersten klimaneutralen Industriestandort Europas“ hinführen. Eine wichtige Einigung: der Ausstieg aus der Kohleverstromung bis 2030. Es sei in den Verhandlungen gelungen, die „vermeintlichen Gegensätze der Parteien zu versöhnen“, sagte Wüst. Beide Parteien eine „ein gemeinsamer Kompass für mehr Klimaschutz, eine nachhaltige Wirtschaft, soziale Sicherheit, eine zukunftsfähige Infrastruktur, Investitionen in Bildung und solide Finanzen“, so der 46-Jährige. Auch Grünen-Landeschefin Mona Neubaur warb um die Akzeptanz einer Regierung mit der CDU: In den nächsten fünf Jahren solle NRW sozial gerechter, ökologischer, digitaler und wirtschaftlich stärker aufgestellt sein als heute.

In dem 146 Seiten umfassenden „Zukunftsvertrag“ stechen folgende Kernthemen hervor:

Energiewende und Klima: CDU und Grüne wollen den Kohleausstieg bis 2030 abschließen. Angesichts des Ukrainekonflikts werde die Braunkohle allerdings zur Versorgungssicherheit beitragen. Dies sei „gemeinsam mit der Bundesregierung zu jedem Zeitpunkt“ gewährleistet. Außerdem: Der pauschale 1000-Meter-Abstand zwischen Windkraftanlagen und Wohnbebauung, wofür die CDU vehement im Wahlkampf eintrat, wird abgeschafft. In den kommenden fünf Jahren sollen überdies mindestens 1000 zusätzliche Windkraftanlagen errichtet werden. Zudem ist eine schrittweise Solarpflicht geplant: Sie beginnt im Januar 2023 bereits für alle neuen öffentlichen Liegenschaften und soll später auch gewerbliche- und private Neubauten umfassen.

Innere Sicherheit: Jährlich sollen 3000 Polizeikräfte eingestellt werden. Die Bekämpfung von Sexualdelikten gegen Kinder und Jugendliche bleibt ein Schwerpunkt. Ebenso die „Bekämpfung der organisierten Kriminalität, insbesondere der Clan-Kriminalität sowie der Rocker- und Mafia-Kriminalität. Der Einsatz von Elektroschockpistolen, den sogenannten Tasern, wird bis 2024 weiter getestet. Diese Geräte sollen künftig mit Körperkameras gekoppelt werden, die alles aufzeichnen. Außerdem werde das umstrittene Versammlungsgesetz 2023 geprüft.

Bildung und Erziehung: In den kommenden Jahren sollen 10.000 zusätzliche Lehrkräfte eingestellt werden. Und weiter: „Die nicht sofort besetzbaren Stellen werden wir temporär durch weitere pädagogische Fachkräfte und unterstützendes Personal besetzen.“ Auch sollen die Studienplatzkapazitäten für Lehramtsstudiengänge erhöht werden. Zudem soll die Eingangsbesoldung für alle Lehrkräfte einheitlich auf die Stufe A13 angehoben werden. Die digitale Fortbildungsoffensive für Lehrkräfte wird fortgesetzt und weiterentwickelt. Im Falle einer neuen Corona-Welle sollen Schulschließungen möglichst unterbleiben. Da die Bewegungs- und Schwimmfähigkeit sinke, solle Schulsport weiterentwickelt werden. Außerdem heißt es im Vertrag: „Wir garantieren den bekenntnisorientierten Religionsunterricht und werden ihn gemeinsam mit den Kirchen und Religionsgemeinschaften weiterentwickeln.“ Beim islamischen Religionsunterricht soll „insbesondere progressiven Verbänden“ eine Beteiligung möglich sein. Eltern sollen in Zukunft ein weiteres Jahr von Kitabeiträgen befreit werden: „Wir werden auch das dritte Kita-Jahr vor der Einschulung in ganz NRW beitragsfrei machen“. Bisher sind die beiden letzten Betreuungsjahre kostenlos. Darüber hinaus ist ein „Pakt gegen Kinderarmut“ geplant. Es werde eine Familienkarte zunächst für landeseigene Angebote geben.

Verkehr: „Wir werden mindestens genauso viele Mittel für den Neu- und Ausbau von Radwegen zur Verfügung stellen wie für den Neu- und Ausbau von Landesstraßen. […] Wir wollen bis 2027 1.000 km neue Radwege bauen und so ein möglichst flächendeckendes Netz in Nordrhein-Westfalen herstellen. […] Beim Straßenbau hat die Sanierung für uns Vorrang vor dem Neubau“, heißt es im Koalitionsvertrag. Des Weiteren soll der öffentliche Nahverkehr stark ausgebaut und ein landesweites Schnellbusnetz errichtet werden. Dabei haben die Parteien vor allem Kommunen im Blick, die keine Schienenanbindung haben oder über die Schiene nur schwer zu erreichen sind. Zudem haben sich CDU und Grüne geeinigt, den Passagiernachtflug „merklich“ zu reduzieren.

Islam und Muslime: CDU und Grüne weisen im Vertrag darauf hin: „Die Musliminnen und Muslime sind ein fester und wichtiger Bestandteil unserer Gesellschaft. Der Entwicklung muslimischer Wohlfahrtsverbände und spezifischen Angeboten wie z. B. Pflege und Friedhöfen stehen wir positiv gegenüber. Islamische Gemeinschaften können und sollen als Religionsgemeinschaften anerkannt werden, wenn sie die rechtlichen Voraussetzungen dafür erfüllen. Wir unterstützen den Aufbau islamischer Studiengänge an Universitäten und werden den Ausbau der islamischen Theologie zur Fakultät an der Universität Münster fördern. Für die Integration des Islams sind deutschsprachige, die Werte des Grundgesetzes unterstützende und von ausländischen Regierungen unabhängige Imame erforderlich. Deshalb brauchen wir eine eigene deutschsprachige Ausbildung für Imaminnen und Imame an einer staatlichen Hochschule in Nordrhein-Westfalen.“

Türkiye und Migration: Hinsichtlich Türkiye findet sich im Vertrag nur ein Satz: CDU und Grüne wollen „den zivilgesellschaftlichen Austausch mit Türkiye“ unterstützen. Allerdings gehen die Parteien nicht näher darauf ein, wen oder was sie als zivilgesellschaftliche Akteure in Türkiye definieren. Zudem wollen die Regierungsparteien verstärkt ausländische Fachkräfte gewinnen. Dazu gehöre eine unbürokratische und schnelle Anerkennung von ausländischen Berufs- und Bildungsabschlüssen.

Ob NRW in den nächsten fünf Jahren sozial gerechter, ökologischer und wirtschaftlich stärker wird, bleibt abzuwarten. Gegönnt sei es dem Bundesland und seinen Bürgern.

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