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Priyedor war eine kleine, ruhige Stadt in Bosnien – bis das Jahr 1992 kam. Ende April des erwähnten Jahres verkündeten serbische Truppen über lokale Radiosender der Bevölkerung, dass sie die Stadt erobert hätten. Nach der Einnahme wurden alle Kommunikationskanäle in die Stadt gekappt, sodass fast keine Verbindung mehr zur Außenwelt bestand. Handys hatten keinen Empfang mehr, der Busverkehr wurde eingestellt und in den Abendstunden wurde eine Ausgangssperre, die sogenannten Polizeistunden, verhängt. Nichtserbische Bürger verloren plötzlich ihre Arbeit, und alle wichtigen Posten wurden nunmehr Serben anvertraut.

Dann kam dieses Datum. Der 31. Mai 1992 ...

Mit diesem Datum nahm die schmerzhaftere Geschichte der Stadt Priyedor ihren Lauf. An jenem Tag verkündeten serbische Beamten, wiederum über lokale Radiosender, der Bevölkerung eine neuerliche Verordnung. Es wurde angeordnet, dass nichtserbische Bürger ein weißes Tuch an die Fenster ihrer Häuser anzubringen und sich draußen ein weißes Band an den Arm zu binden hätten. Auf diese Weise sollten nichtserbische Bürger, also Bosniaken und Kroaten, ermittelt und Personen bzw. Wohnadressen identifiziert werden, um anschließend die eigentlich geplante ethnische Säuberung einzuleiten. Klar war, dass die Stadt zu dieser Zeit überwiegend bosnische Einwohner hatte.

Was danach geschah, war so schmerzhaft, dass man über Priyedor genauso Bescheid wissen sollte wie über Srebrenica. Und obwohl der Internationale Gerichtshof in Den Haag die Vorfälle in Priyedor nicht wie in Srebrenica als Völkermord einstufte, wurde Priyedor Schauplatz eines geplanten Völkermordes.

Eine geplante ethnische Säuberung

Nach dem Mai 1992 wurden tausende unschuldige Zivilisten aus Priyedor in Gefangenenlager deportiert. Noch heute stößt man auf Fotos, welche die menschenunwürdigen Zustände in den Lagern von Omarska, Keratern, Tmopolie und Manjaca zeigen. Unschuldige Menschen wurden in diesen Lagern unvorstellbarer Folter ausgesetzt und ermordet, Frauen wurden vergewaltigt und von ihren Kindern getrennt.

Serbische Truppen sortierten 200 unschuldige Menschen, Bosnier und Kroaten, wahllos aus diesen Lagern aus und brachten sie am 21. August 1992 zu den Klippen des Berges Koricanske stijene in der Region Vlasic. Diesen Gefangenen erzählten sie, sie sollten gegen serbische Zivilisten ausgetauscht werden, doch stattdessen wurden sie auf die Knie gezwungen und hingerichtet. Die ermordeten Zivilisten stürzten knapp 300 Meter die Klippen hinunter, wobei die serbischen Truppen in die Tiefe schossen und sogar Handgranaten hinunterwarfen, um sicher zu sein, dass alle tot waren. Von diesen 200 Menschen überlebten nur 12.

In Priyedor wurden insgesamt 3176 bosnische und kroatische Zivilisten von serbischen Truppen massakriert. Unter ihnen befanden sich 256 Frauen und 102 Kinder. Außerdem wurden 31000 Menschen in Gefangenenlagern interniert und 53000 Menschen aus ihren Häusern vertrieben. Nach Angaben der Kommission für vermisste Personen in Bosnien und Herzegowina wurden in der Stadt bisher 98 Massengräber gefunden. Das größte gefundene Massengrab liegt in Tomasica, wo 453 Leichen entdeckt wurden. Von 580 Leichnamen fehlt leider noch immer jede Spur. Einige Familien mussten sich sogar mit einem einzigen Knochen ihres Angehörigen abfinden und bestatteten diesen, weil der Rest des Körpers nicht aufgefunden werden konnte.

Lassen wir weiße Bänder sprechen!

Laut Dayton-Vertrag, der den Krieg beendete, wurde Priyedor Teil der Republika Srpska, also einer Entität von Bosnien und Herzegowina. Die dortige Administration verhindert selbst heute das Gedenken an die ermordeten Menschen.

Emir Hodzic, der seinen Vater und seinen Bruder im Gefangenenlager von Omarska verlor, wollte am 23. Mai 2021 aller Menschen gedenken, die im Omarska-Lager in Priyedor ums Leben kamen. Doch ihm wurde nicht einmal gestattet, das Gelände des ehemaligen Omarska-Gefangenenlagers, heute eine Fabrik, zu betreten. Daraufhin begab sich Emir mit einem weißen Band am Arm auf den Platz von Priyedor und gedachte still derer, die ihr Leben verloren.

In Bosnien und Herzegowina gilt der 31. Mai im Gedenken an Priyedor als „Tag des weißen Bandes“. Die Menschen hängen an diesem Tag weiße Laken an ihre Fenster und binden sich weiße Bänder an die Arme, um an die Ermordeten zu erinnern, so auch in Priyedor selbst. Dass der Internationale Gerichtshof in Den Haag die Vorgänge in Priyedor nicht als Völkermord einstufte, verletzte die Angehörigen der Opfer aus Priyedor sehr und vergrößerte ihr Leid. Dementsprechend ist die Tragödie von Priyedor genauso wichtig wie das Leid von Srebrenica, das als Völkermord anerkannt wurde, und hat es verdient, thematisiert zu werden.

Dabei spielt es keine Rolle, wo wir uns befinden, um der Opfer von Priyedor zu gedenken. Sei es in Bosnien, in Deutschland, Österreich, der Türkei, überall auf der Welt ...

Mit einem weißen Band am Arm können wir am 31. Mai der Opfer gedenken, die ihr Leben in Priyedor verloren. Denen, die fragen, was dieses weiße Band bedeutet, können wir es dann erzählen. Lasst uns davon erzählen, damit so etwas oder etwas Vergleichbares nirgendwo auf der Welt jemals wieder passiert. Lasst uns davon erzählen, damit wir nicht vergessen und es nicht in Vergessenheit gerät.

Der 31. Mai ....

Ein weißes Band ...

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