Flagge von Bosnien und Herzegowina (AA)
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Die politische Landkarte Bosniens, wie sie in der Verfassung verankert wurde, hat zwar nach außen eine gemeinsame Grenze, ist aber in Bezug auf die tatsächliche Lage dreigeteilt. Hauptgrund dafür ist die juristisch vage formulierte, in sich widersprüchliche und mit der soziologischen Realität unvereinbare Staatsdefinition und ihre Ausgestaltung.

Bosnische Verfassung und politisches Panorama

Die derzeitige Verfassung zielte in erster Linie darauf ab, noch vor der Etablierung einer politischen Ordnung und der Gewährleistung von Stabilität Frieden zu stiften. In diesem Sinne wurden Bosnier, Serben und Kroaten mit der Entscheidung des Verfassungsgerichts von Bosnien und Herzegowina im Jahr 2000 zu Gründungsnationen des Staates. Und obschon die Bosniaken bereits in Titos Jugoslawien und erst recht im Krieg zwischen 1992 und1995 die eigentlichen Opfer und hinsichtlich ihres Bevölkerungsanteils eigentlich dominant waren, hatten sie hinsichtlich der Anerkennung von Bosniaken, Kroaten und Serben in Bosnien und Herzegowina keinerlei Probleme. Entgegen der demographischen und soziologischen Ausgangslage wurde jedoch jeweils ein Drittel der Vertretungsmacht an jede der drei Ethnien in der Verfassung als Regelung verankert, womit von Anfang an eine Situation geschaffen wurde, bei der die Bosniaken benachteiligt wurden.

Alle Juristen, die sich universellen Rechtsnormen verschreiben, stehen in der Pflicht, die einschlägigen Verfassungsgarantien zur Sprache zu bringen und der tiefen Besorgnis der Bosniaken, die in den Kriegsjahren Opfer eines Völkermordes wurden, Rechnung zu tragen. So gesehen, steht „Balkanisierung“ nicht für einen Prozess, sondern beschreibt ein explizites Problem. Hinzu kommt, dass die ethnische Homogenität in den Regionen, in denen Kroaten und Serben leben, sowie die Gründung der Verwaltung auf Menschen aus der jeweiligen Ethnie die rechtlich von Dayton ohnehin verursachte Fragmentierung vertieft haben.

Die den Serben verfassungsgemäß eingeräumten Rechte können tatsächlich auch in dem Sinne gedeutet werden, dass sie ihre zwischen 1992 und 1995 formulierten Ziele hinsichtlich einer eigenen politischen Vorherrschaft erreicht haben. So gesehen mangelt es dem jetzigen Gebilde an Merkmalen, die einen Staat eigentlich ausmachen, etwa Unabhängigkeit, Einheit, Integrität und Kontinuität.

Die Organisation der Föderation Bosnien und Herzegowina sowie der Republika Srpska als quasi unabhängige Staaten sind die offensichtlichsten Hindernisse für die notwendige Einheit und Integrität. Damit hat Bosnien und Herzegowina derzeit eher eine zweistaatliche Struktur als einen föderalen Charakter. Und selbst die Föderation von Bosnien und Herzegowina bildet wegen der Aufteilung in Kantonen keine Einheit und zeigt keine Integrität auf, so dass die Kroaten unabhängig in ihren Kantonen leben. In Anbetracht der Tatsache, dass eine mehrgeteilte Exekutive in etablierten modernen Staaten zu chronischen Debatten und Problemen führt, verdeutlicht eine objektive Würdigung der Realität in Bosnien und Herzegowina mit einer Vielzahl von Präsidenten und Premierminister sowie einer komplizierten, voneinander unabhängigen Verwaltungs- und Justizorganisation, dass der Vertrag von Dayton die Wurzel der aktuellen Staatskrise darstellt.

Überdenken der bosnischen Verfassung

Aliya Izetbegovic bestätigte die bis hierher dargelegten verfassungsrechtlichen Einschätzungen zu Beginn des Dayton-Prozesses mit dem folgenden Satz: „Das ist vielleicht kein gerechter Frieden, aber es ist besser als ein andauernder Krieg.“

Wenn die aktuelle Verfassung überdacht werden soll, sind die folgenden drei historischen Tatsachen zu berücksichtigen. Erstens das Erbe der konstitutionellen und politischen Krisen Jugoslawiens unter dem Diktator Tito. Zweitens die Tatsache, dass die Opfer des Krieges zwischen 1992 und 1995 zuvorderst Bosniaken waren, und drittens, dass, bezüglich der Gründungsnationen der aktuelle Bevölkerungsanteil der Bosniaken höher ist als der von Serben und Kroaten.

Der Dayton-Vertrag mag den Krieg befriedet haben, war und ist aber nicht in der Lage, die verfassungsrechtlichen- bzw. politischen Krisen zu lösen. Deshalb sollte eine Verfassungsreform in Angriff genommen werden, wodurch zunächst die politischen Garantien für die Bosniaken ausgeweitet und deren politische Repräsentation gestärkt werden müssen. Darüber hinaus muss die Zentralregierung gegenüber den „Möchtegern“-Teilstaaten gefestigt sowie die vollständige Integration der Kroaten in das bestehende System als Reaktion auf einen verdeckt vorangetriebenen Prozess zur Bildung eines eigenen Staates vorangetrieben werden, um dabei die Möglichkeit zur Entwicklung eines gemeinsamen Zugehörigkeitsgefühls in Bosnien auszuloten.

Mit dem Dayton-Vertrag werden in Bosnien aktuell auch die Garantiemächte politisch auf die Probe gestellt. Insbesondere USA und EU haben den heute gültigen Rahmen geprägt. Hinzu kommt die unbestreitbare Präsenz Russlands in der Region. Und auch die außenpolitisch mit einer neuen Vision agierende Türkei mit ihrem Einfluss auf dem Balkan und die muslimische Öffentlichkeit in Europa wird sich bei den anstehenden konstitutionellen und politischen Prozessen einbringen, um die regionale politische Stabilität mit einem praktikableren Verfassungssystem zu gewährleisten.

In Bosnien und Herzegowina hat der Dayton-Vertrag einen brüchigen Frieden geschaffen, doch nun sind dauerhafter Frieden, Einheit und Integrität erforderlich. Dies kann durch die Verabschiedung einer neuen Verfassung für Bosnien und Herzegowina unter Berücksichtigung der Dynamik der Region und der möglichen Entwicklungen in den nächsten Jahrzehnten ermöglicht werden.

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