ARCHIV - 24.07.2020, Türkei, Antalya: Das türkische Forschungsschiff „Oruç Reis“ ankert vor der Küste Antalyas im Mittelmeer. (dpa)
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Als das türkische Bohrschiff „Fatih“ 2018 für seinen Einsatz die Küste Antalyas verließ, erklärte Energieminister Fatih Dönmez, das Auffinden von Erdgas im Meer könne lange dauern. Ländervergleiche bekräftigten seine Prognose: Norwegen entdeckte erst beim 30. Versuch Erdgas und Großbritannien hat in der Nordsee mehr als 100 Versuche unternehmen müssen. Präsident Erdoğan hörte dem Minister zu und antwortete: „Diese Nation hat zu lange gewartet. Wir haben nicht so viel Zeit, deshalb beeile dich bitte, Fatih.“

Der 100-jährige Traum der Türkei, auf landeseigene Energieressourcen zurückzugreifen, sollte sobald wie möglich verwirklicht werden. Syrien, Iran, Irak oder Zypern – fast alle Nachbarländer verfügten schon seit geraumer Zeit über wichtige Erdgas- oder Erdölreserven in der Region. Für die türkische Bevölkerung war es nicht nachvollziehlbar und schwer zu glauben, dass im Territorium und in den Hoheitsgewässern der Türkei keine nennenswerten Erdöl- und Erdgasreserven vorhanden seien.

Die Sehnsucht nach energiepolitischer Unabhängigkeit wurde dann vergangenen Freitag gestillt. Das ganze Land wartete gespannt auf die angekündigte „frohe Botschaft“ des Präsdenten. Bei einer Live-Übertragung verkündete schließlich dieser: Die Türkei hat im Schwarzen Meer Erdgasreserven von 320 Milliarden Kubikmeter entdeckt.

Eine strategische Energiequelle für die Türkei

Erdgas gilt für die Türkei aus vielen Gründen als eine strategische Energiequelle. Sowohl bei der industriellen Stromerzeugung als auch für private Haushalte ist der Rohstoff unverzichtbar. Der Erdgasfund könnte für das Land tatsächlich sehr vorteilhaft sein: bei der Verringerung des Leistungsbilanzdefizits, der Gewährleistung der Energieversorgungssicherheit und der Regulierung von Erdgas- und Strompreisen. Aber auch bei der Anteilserhöhung von inländischen Ressourcen und der Stärkung energiepolitischer Unabhängigkeit des Landes könnte das Gas eine entscheidende Rolle spielen. Als Folge könnte die Wettbewerbsfähigkeit der Türkei gesteigert werden – durch die Senkung der Energiekosten für die türkische Industrie und den Arbeitsmarkt.

Die Entdeckung des Erdgases ist nicht nur aus ökonomischer Perspektive folgenreich, sondern lässt auch Aussagen über den technischen Fortschritt des Landes zu: Das neue Erdgasreservat im Tuna-1-Gebiet im Schwarzen Meer weist auf die technische Kapazität der Türkei hin, die die Zukunft des inländischen Energiesektors prägen wird.

Die schwierigen Zeiten sind vorbei

Bis vor kurzem noch sah die Situation ganz anders aus. Die Reaktion der Türkei auf die einseitigen Erdgasexplorations-Aktivitäten Zyperns im Jahr 2010 war nicht besonders wirkungsvoll. Die Türkei hat damals keine andere Möglichkeit gehabt, als das Forschungsschiff „Koca Piri Reis“ in Richtung Zypern auszusenden. Das Schiff wurde im Jahr 1978 gebaut, war nicht größer als ein Fischerboot und blieb mehrmals auf der Strecke.

Heute sieht das Bild ganz anders aus. Die Türkei verfügt heute über drei Forschungsschiffe für Erdöl- und Erdgasexploration sowie drei seismische Forschungsschiffe. Der Erdgasfund zeigt: Neben der erforderlichen technischen Infrastruktur besitzt die Türkei nun auch das Know-how.

Wenn man bedenkt, dass in den vergangenen Jahren weltbekannte Konzerne wie BP, Petrobras, Exxon Mobil und Shell im Auftrag der Türkei erfolglose Suchaktionen durchgeführt haben und Kosten in Millionenhöhe verursachten, wird die Bedeutung des Erdgasfundes ersichtlicher.

Die Türkei gehört weltweit zu den wenigen Ländern, die ihre eigenen Such- und seismischen Schiffe haben. Mit der Entdeckung des Rohstoffes wird nun das Vertrauen in die eigene Politik bestärkt. Die Türkei hat bereits Erfahrung mit der Verarbeitung und Beförderung von Erdgas, nun kommt mit dem Fund das fehlende Zahnrad dazu.

Wohin mit den Erdgasreserven?

Für die Tiefseeproduktion müssten die Infrastruktur und das Know-how dennoch weiter ausgebaut werden. Dafür könnten Teams des türkisches Mineralölunternehmens TPAO (Türkiye Petrolleri Anonim Ortaklığı) mit großen Erdölkonzernen im Rahmen von Wissensaustauschprogrammen zusammenarbeiten. Neben TPAO hat auch die Erdgas-Beförderunggsgesellschaft BOTAŞ umfassende Erfahrungen im Bau von Unterwasser-Gas-Pipelines sowie in der Erdgaslagerung und -lieferung.

Bei all diesen Prozessen erwies sich die Führungskompetenz des türkischen Präsidenten als recht erfolgreich: Durch die Festlegung von klaren Zielen konnten bedeutende Fortschritte gemacht werden – sowohl bei der Akquisition der Explorations- und Untersuchungsschiffe als auch bei der Motivation der Mitarbeiter.

Die Türkei hat durch diese seit Jahrzehnten ersehnte Entdeckung für weitere Erdgas- und Ölforschungen wieder Mut gefasst. Wir können mit Sicherheit davon ausgehen, dass die Suchaktivitäten nach Erdgas und Erdöl künftig intensiviert werden.

Der Wert der gefundenen Erdgasreserven entspricht in etwa 60 und 75 Milliarden US-Dollar. Der jährliche Verbrauch von 40 Milliarden Kubikmeter Erdgas würde geschätzt einen Bedarf von acht Jahren decken.

Angesichts der Tatsache, dass der Gasverbrauch in der Türkei in den kommenden Jahren zunehmen wird, ist die jüngste Entdeckung durchaus nicht ausreichend, um die Türkei als energieautark zu deklarieren. Schaut man sich die Erdgasfunde in Ägypten und Israel an, dann ist der Fund in der Türkei nicht beeindruckend. Die Behörden geben jedoch mit Zuversicht an, dass diese Zahl in naher Zukunft nach oben korrigiert wird.

Auswirkungen des Erdgasfundes auf internationale Beziehungen

Schätzungen zufolge wird die Entdeckung von weiteren Gasreserven in der Türkei auch eine positive Entwicklung auf Europa haben. Mit internationalen Gasübertragungsnetzen wie TANAP, Turkish Stream und Gastransportnetzen hat die Türkei bewiesen, dass sie im Erdgas-Geschäft ein zuverlässiger Partner ist. Der Import von europäischem Gas aus der Türkei wird einfacher und billiger.

D.h. auch außenpolitisch werden die gefundenen Erdgasvorkommen einen Nebeneffekt haben. Dank des Erdgases wird die Türkei auch bei internationalen Beziehungen ihre Position stärken. Das Land ist derzeit stark auf Lieferungen aus Russland, Iran, Aserbaidschan, Katar und Algerien angewiesen. Deswegen musste die Türkei mit diesen Ländern einen ständigen Kompromiss eingehen und ein ausgewogenes Verhältnis pflegen. Nun können die Gaspreise anders verhandelt werden.

Die Entdeckung des Erdgases hat neben all diesen Faktoren eine weitere Bedeutung: Es war wichtig zu beweisen, dass es in der Türkei überhaupt Erdöl und Erdgas gibt. Schließlich waren die Erwartungen sehr hoch und die Entdeckung mutierte zu einer nationalen Frage der Ehre.

Unter den gegenwärtigen Bedigungen wird damit gerechnet, dass die Erschließung der Gasquelle und deren Transport sechs bis acht Jahre in Anspruch nehmen kann – was für Erdoğan definitiv zu lange dauert. Deshalb ist das Jahr 2023 anvisiert. Dann soll das Erdgas zur Verfügung stehen. Dabei handelt es sich zwar um ein sehr ehrgeiziges Ziel, aber Erfolgsaussichten bestehen, wenn man sich die letzten Fortschritte der Türkei im Energiebereich anschaut. Die staatliche Institution TPAO wird das Geschäft leiten und alle Möglichkeiten mobilisieren, um bis zur Deadline Resultate zu liefern. Auch angesichts der Präsidentschaftswahlen im Jahr 2023 ist zu erwarten, dass Erdoğan diesen Prozess mit Ernsthaftigkeit mitverfolgen wird.

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