22. September 2020, Belgien, Brüssel: Der Präsident des Europäischen Rates Charles Michel (C) spricht während einer Videokonferenz mit der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel (L) und dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan (R) im Gebäude des Europäischen Rates in Brüssel. (dpa)
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Am 1. und 2. Oktober haben die EU-Mitgliedstaaten einen Sondergipfel berufen, um unter anderem über die Krise im östlichen Mittelmeer und mögliche Sanktionen gegen die Türkei zu beraten. Dabei hat allen voran der französische Präsident Emmanuel Macron dafür plädiert, härter gegen die Türkei vorzugehen. Auf der anderen Seite stand Deutschland mit der Forderung, die Krise auf diplomatischem Wege zu lösen. Die Krise im östlichen Mittelmeerraum zeigt, dass die Unstimmigkeiten innerhalb der EU ihre Entscheidungsmechanismen hemmen, sodass sie keine effektive Außenpolitik ausüben kann. Die Türkei wiederum beweist in dieser Krise, dass sie auf Augenhöhe mit der EU interagiert und ein einflussreicher Akteur in der internationalen Arena ist.

Die Ergebnisse des Sondergipfels

Die Türkei ist ein bestimmender Faktor bei der Entscheidungsfindung der EU. Dies geht aus den Aussagen der Mitgliedstaaten nach dem Sondergipfel hervor. Südzypern hatte die Sanktionen gegen Belarus verhindert, da die südzypriotische Regierung ein härteres Vorgehen gegenüber der Türkei gefordert hatte. Die anderen Mitgliedstaaten konnten Südzypern letztendlich doch noch zu einer Zustimmung für Belarus-Sanktionen bewegen, ohne auch der Türkei Sanktionen aufzuerlegen. Bei seiner Position hatte sich Südzypern vor allem auf den französischen Präsidenten Emmanuel Macron verlassen. Macron hatte vor dem Gipfel schon deutlich gemacht, dass die Türkei inzwischen kein Partner der EU mehr sei und die EU härter gegen die Türkei vorgehen müsse.

Neben Südzypern und Frankreich hatte Griechenland als die Hauptkonfliktpartei der Türkei dieselben Forderungen. Auch Österreich war im Bunde. Der österreichische Bundeskanzler Sebastian Kurz forderte den Stopp der Beitrittsgespräche mit der Türkei und wiederholte diese Forderung auch auf einem weiteren Gipfeltreffen der EU. Auf der Gegenseite befinden sich jedoch mit Deutschland, Italien, Ungarn und Malta weitere EU-Staaten, die sich für einen diplomatischen Lösungsweg einsetzen. Das Endergebnis des Sondergipfels zeigt: Deutschland konnte sich mit seinen Befürwortern durchsetzen. Kanzlerin Angela Merkel sagte sogar, man wolle mit der Türkei bis Dezember unter anderem über die Ausweitung der Zollunion und die Visafreiheit verhandeln. Auch EU-Kommissionspräsidenten Ursula von der Leyen sprach sich nach dem Gipfel für diplomatische Gespräche mit der Türkei aus.

Gehemmte Entscheidungsmechanismen der EU

Der Sondergipfel kann aus vielen Perspektiven betrachtet und bewertet werden. Nimmt man die Beziehung der EU-Mitgliedstaaten untereinander in den Blick, kann eine gewisse Uneinigkeit festgestellt werden. Diese interne Uneinigkeit wird vor allem wegen der Meinungsverschiedenheit zwischen Frankreich und Deutschland verursacht. Emmanuel Macron unterstützte die griechische Regierung und schickte Militärschiffe ins östliche Mittelmeer, um Frankreichs militärische Macht demonstrativ zur Schau zu stellen. Auf der anderen Seite war da Deutschland, das nicht direkt Partei ergriff, sondern stets versuchte, deeskalierend zu wirken und die Vermittlerrolle zwischen Griechenland und der Türkei einzunehmen.

Den Zweikampf zwischen Frankreich und Deutschland sollte man in einen größeren Kontext einordnen. Frankreich versucht sich seit Jahren als Führungsmacht Europas zu etablieren und handelte deswegen in der internationalen Politik immer proaktiv. Die französische Syrienpolitik mit der Unterstützung der YPG/PKK, die Unterstützung für Khalifa Haftar in Libyen gegen die von der UN anerkannten Regierung und nicht zuletzt die militärische Präsenz im östlichen Mittelmeer sind alles Indizien für einen Führungsanspruch Frankreichs in der EU. Die Unstimmigkeiten innerhalb der EU erweisen sich währenddessen als sehr kontraproduktiv, da Entscheidungen erst sehr spät oder gar nicht gefällt werden. EU-Politiker bezeichneten die verspäteten Sanktionen gegen Belarus als peinlich und verwiesen dabei auf das Veto von Südzypern.

Macrons Kampf gegen alle

Mit Hinblick auf Frankreich kann man die Entscheidungen des französischen Präsidenten Macron in der internationalen Arena durch seinen drohenden Machtverlust in seinem eigenen Land erklären. Die Demonstrationen der Gelbwesten und nicht zuletzt die erfolglosen Kommunalwahlen sind klare Anzeichen dafür, dass das französische Volk mit seinem Präsidenten nicht zufrieden ist. Die aggressive Außenpolitik Frankreichs kommt nicht von ungefähr. Macron erhofft sich nämlich, wenigstens auf internationaler Ebene Erfolge verzeichnen zu können. So hat er im östlichen Mittelmeer versucht, mit der Unterstützung anderer Mittelmeerländer die Türkei zu isolieren. Jedoch erhielt der französische Präsident beim EU-Gipfeltreffen nicht die gewünschte Unterstützung. Malta und Italien, die im Mittelmeer ebenfalls wichtige Akteure sind, haben beim Sondergipfel deutlich gemacht, dass die Türkei für sie ein wichtiger Partner ist.

Ausweitung der Zollunion als Chance für Türkei-EU-Beziehungen

Die Krise im östlichen Mittelmeerraum hat zu einem Paradigmenwechsel in den Türkei-EU-Beziehungen geführt. Da die Türkei nicht von ihrer Position abgewichen ist und die EU sich nicht auf eine einheitliche Lösung einigen konnte, musste die EU der Türkei entgegenkommen. Der neu erschienene Kommentar der vom Bundestag finanzierten Stiftung für Wissenschaft und Politik (SWP) gibt die EU-Perspektive auf die Beziehungen mit der Türkei präzise wieder. In dem Kommentar, der in Zusammenarbeit mit sechs europäischen Thinktanks erarbeitet und verfasst wurde, wird darauf hingewiesen, dass vor allem die Ausweitung der Zollunion und die Beitrittsgespräche mit der Türkei unabhängig voneinander betrachten werden sollten. Die Ausweitung der Zollunion sei nicht nur im Interesse der Türkei, sondern auch wichtig für die wirtschaftliche Entwicklung der EU. Insbesondere Spanien, Polen, Italien, Griechenland, Frankreich und Deutschland werden als Mitgliedstaaten genannt, die von dieser Ausweitung profitieren würden. Auf der anderen Seite sei die Türkei von der Fortsetzung der EU-Beitrittsgespräche weit entfernt. Grund dafür sei die Abnahme von Rechtsstaatlichkeit und Freiheit sowie die aktuelle türkische Außenpolitik in Syrien, Libyen und im östlichen Mittelmeer. Die SWP betont in ihrem Kommentar, dass die EU trotz vieler Differenzen mit der Türkei auf rationaler Ebene einen Dialog führen sollte.

In den letzten Jahren hat die EU immer wieder Entscheidungen getroffen, die sich als kontraproduktiv erwiesen haben. Dabei war die Türkei immer wieder bereit, mit der EU eine Partnerschaft einzugehen, in der beide Seite profitieren würden. Dass die EU sich für die Ausweitung der Zollunion offen zeigt, kann als ein erstes Anzeichen für ein Zusammenkommen der EU und der Türkei gewertet werden. Die EU hat jedoch ein starkes Interesse daran, die Ausweitung der Zollunion nicht ohne eine Gegenleistung der Türkei zu exekutieren. Die EU befürchtet nämlich, dass die Türkei andernfalls diesen Schritt als Triumph ihrer Politik im östlichen Mittelmeer betrachten könnte. Einen Schritt auf die Türkei zuzugehen hieße für die EU eine Niederlage in den Verhandlungen mit dem Land, daher möchte sie dies vermeiden.

Des weiteren kann die Ausweitung der Zollunion, wie auch im SWP-Kommentar erwähnt, einen „Spill-Over“ Effekt, also einen positiven Einfluss auf andere Bereiche in den Beziehungen mit der Türkei, auslösen. Auch die Türkei erhofft sich diesen Effekt und möchte mit der EU immer noch eng zusammenarbeiten. Die Krise im östlichen Mittelmeerraum kann deshalb, wenn die beteiligten Parteien sich einigen und Deutschland als EU-Ratspräsident sich in seiner Rolle als Schlichter durchsetzen kann, gar eine Annäherung zwischen der Türkei und EU bedeuten.

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