Prof. İbrahim Kalın ist Sprecher und Berater des türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdoğan (Others)
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Während Gotteshäuser wie Moscheen und Synagogen in den letzten Jahren bei zahllosen rassistischen Terroranschlägen, die in den westlichen Ländern nach wie vor als Einzeltaten eingestuft werden, in Mitleidenschaft gezogen wurden, sind ebenso Muslime und Flüchtlinge Ziel von physischen Übergriffen im öffentlichen Raum. Leider haben in den vergangenen fünf Jahren rassistische Terroranschläge in den westlichen Ländern um 320 % zugenommen.

Obwohl die täglichen rassistischen Übergriffe in diesen Ländern voneinander unabhängig erscheinen, macht sich eine politische und ideologische Infrastruktur, die sich über die Jahre herausgebildet hat, mit Hassreden und rassistischen Aktionen auf der Straße breit. In diesem Sinne ist es kein Zufall, dass die Zunahme rassistischer Angriffe insbesondere in Europa mit dem Erstarken rassistischer Parteien und der unüberhörbaren, zunehmenden rassistischen Rhetorik in den Medien bzw. den öffentlichen Debatten einhergeht. Die zumeist nicht sorgfältig erfolgende strafrechtliche Verfolgung der vornehmlich als Einzeltaten eingestuften Übergriffe bergen das Potential, dass weitere Menschen oder Gruppierungen ermutigt werden, ähnliche Taten zu vollbringen.

Insbesondere mit der so genannten Flüchtlingswelle, die zu einem Anstieg des muslimischen Bevölkerungsanteils in Europa geführt hat, erleben wir, dass die Ideologie des Rassismus mit ihren historischen Wurzeln in der europäischen Geschichte aktuell immer mehr Anhänger gewinnt. Besonders nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 ist es unübersehbar, dass in Europa, augenscheinlich wegen der Religion des Islam, geradezu eine Renaissance / Wiedergeburt des Rassismus zu verzeichnen ist.

Den heutigen Rassismus und antimuslimischen Hass wie schon in der Vergangenheit als temporäre ideologische Verirrung von wütenden Bevölkerungsschichten zu bezeichnen, ist ein äußerst gefährlicher Ansatz, der die Problematik unterschätzt. Denn es gibt inzwischen keinen Zweifel mehr daran, dass sich Islam- und Fremdenfeindlichkeit ebenso rasant unter den europäischen Intellektuellen und der Mittel- bzw. Oberschicht ausbreiten und sogar bei der Gestaltung der internationalen Politik für populistische und politische Zwecke instrumentalisiert werden.

Dabei dient für die Konstruktion einer europäischen Identität die als unvereinbar eingeordnete Religion des Islam als „Fremde“. Es wird zwischen willkommene und unerwünschte Migranten bzw. Ausländern unterschieden und diese werden entsprechend kategorisiert. Auch wenn die verwendeten Begriffe „westlich“ und „europäisch“ uns Einheitlichkeit suggerieren, ist jedoch Vorsicht geboten. Auch für westliche Gesellschaften gilt, dass es mehrere Nuancen gibt. Europäische Staaten sind in Bezug auf Religion, Kultur und Politik nicht homogen, so wie auch die Muslime, die in diesen europäischen Ländern leben, keinen homogenen Lebensstil haben. Muslime, die derzeit mit Verallgemeinerungen kollektive Ausgrenzung erfahren, haben ebenfalls sprachliche, konfessionelle und kulturelle Unterschiede und bemühen sich, mit diesem kulturellen Reichtum ihren Platz in der Gesellschaft einzunehmen.

Die derzeitige Islamfeindlichkeit in Europa erscheint als Fortsetzung eines historischen Konflikts. Dieser sieht den Islam als wichtigstes Hindernis für eine weitergehende „Europäisierung“. In diesem Zusammenhang gewinnen die sich verschärfenden Integrations- und Assimilationsdebatten in Europa an Bedeutung. So werden diejenigen, die darauf bestehen, ihre muslimische Identität zu bewahren und gar sichtbar zu machen, als „ungenehme Migranten“ ausgegrenzt.

Der „Fremde“ als identitätsstiftendes Element der europäischen Identität war schon immer im westlichen Denken verankert. Bei der Schaffung einer kollektiven Identität in Europa hat das Verständnis, die Gemeinsamkeiten bei Religion, Rasse und Kultur überzubetonen und den „Fremden“ auszugrenzen, eine tief verwurzelte Tradition. In diesem Sinne ist die Bildung einer Identität über den „Fremden“, der als Minderheit zur Gefahr stilisiert und aus unterschiedlichsten ideologischen Gründen diskriminiert wird, ein durchaus gängiges Verhalten in der europäischen Geschichte. Diese „Fremde“ waren im antiken Griechenland die Barbaren, im Christentum die Heiden und in der Moderne waren es die unterentwickelten bzw. primitiven Völker. Während der Ära des Kalten Krieges war der Kommunist dieser „Fremde,“ und nach dem Zusammenbruch wurde in den Folgejahren die islamische Welt als der „Fremde“ postuliert.

Wenn Rassismus und Hassverbrechen in Europa nicht wirksam bekämpft werden, werden die Folgen dieser Fehlentwicklungen den sozialen Frieden und Wohlstand in den nächsten Jahrzehnten dauerhaft gefährden. Weil sie aber derzeit auch im internationalen Rahmen Nutzen verspricht, gewinnt die Islamfeindlichkeit im politischen und gesellschaftlichen Rahmen noch immer an Stärke.

Der demographische Wandel und die weiter alternde Bevölkerung in den entwickelten Staaten des Westens machen den Kampf gegen Rassismus eigentlich unumgänglich. Laut einer Studie des Pew Research Center wird die Bevölkerung Europas bis 2050 voraussichtlich um 6 Prozent schrumpfen, wohingegen die Zahl der in Europa lebenden Muslime voraussichtlich um 63 Prozent zunehmen wird. Auch wenn dieser zahlenmäßige Anstieg zu beobachten ist, erscheint die in der Wahrnehmung der Europäer beschworene Bedrohung durch Muslime künstlich und übertrieben. Heute schwankt der Anteil der Muslime in diesen Ländern zwischen 5 und 10 Prozent der Gesamtbevölkerung.

So gesehen gibt es, wenn es um in Europa lebende Muslime geht, eine größer werdende Kluft zwischen Fiktion und Wirklichkeit. Es überrascht auch nicht, dass laut den Ergebnissen einer in 14 europäischen Ländern durchgeführten IPSOS-Studie die Zahl der tatsächlich in einer Gesellschaft lebenden Muslime sich bis um das Vierfache von der Zahl unterscheidet, die von der Mehrheitsgesellschaft angenommen wird. Folgerichtig verstärkt sich von Tag zu Tag die Gefühlslage, dass die europäische Kultur und christliche Werte der Mehrheitsgesellschaft überrannt werden.

So ist es auch nur eine Frage der Zeit, bis aus dieser künstlich konstruierten Angst Hass wird, aus den Feindschaft und Gewalt erwachsen. Entsprechend tragen die politisch Verantwortlichen die größte Verantwortung im Kampf gegen den wachsenden Rassismus. Und dennoch beobachten wir, dass selbst im politischen Mainstream Europas die Islamfeindlichkeit zunehmend Akzeptanz findet. Auch wenn politisch gegen Migranten und den Islam gewandte Strukturen, wie etwa die AfD in Deutschland, die FPÖ in Österreich, der Front National in Frankreich, die Lega Nord in Italien, die UKIP in England oder die Goldene Morgenröte in Griechenland noch nicht die Mehrheit in den Parlamenten errungen haben, spielen sie nichtsdestotrotz in den Ländern hinsichtlich des gesellschaftlichen und politischen Diskurses eine entscheidende Rolle.

Darüber hinaus sehen wir, dass Islamfeindlichkeit auch von einigen bekannten Schriftstellern und Journalisten geschürt wurde. In diesem Zusammenhang zu nennen sind beispielsweise die islamfeindliche Polemik der italienischen Journalistin Oriana Fallaci sowie die Angst schürenden Romane des französischen Schriftstellers Michel Houellebeq und die Bücher des ehemaligen Deutschen Bundesbankvorstands und Politikers Thilo Sarrazin, der Migranten herabwürdigt und sie als Buckel auf Deutschlands Rücken bezeichnet. Sie allesamt standen monatelang auf den Bestsellerlisten der Buchhändler; diese Werke mit dem Hass, den sie gesät haben, wurden millionenfach verkauft und gelesen. Was diese drei europäischen Autoren gemeinsam haben, ist, wie sie den zu Tage tretenden offensichtlichen Hass verklären und die Diskriminierung von Muslimen – für sie der religiös und kulturell begründete „Fremde“ – normalisieren.

Für Europa wird es jedoch kein friedliches Miteinander geben können, solange weiterhin gegen den Islam und die Muslime gehetzt wird. Ganz im Gegenteil obliegt es der Mehrheitsgesellschaft und der muslimischen Minderheit, einander besser zu verstehen. Europa kann sich nicht als pluralistisch definieren, indem es den Islam bzw. die Muslime an den gesellschaftlichen Rand drängt, und ebenso wenig als freiheitlich, wenn es weiterhin Muslime diskriminiert. In diesem Sinne stellt das Ende dieser derzeit noch fortschreitenden Marginalisierung des Islam bzw. der Muslime auch einen Prüfstein hinsichtlich der Aufrichtigkeit in Bezug auf die von den westlichen Ländern immer wieder beschworenen Werte dar.

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