NATO. (Reuters)
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Nicht erst seit den Äußerungen des französischen Präsidenten Macron über einen „Hirntod der NATO“ gibt es Diskussionen und Vorschläge für eine Reform des nordatlantischen Verteidigungsbündnisses, das aktuell 30 Staaten umfasst. Nach dem Ende des Kalten Krieges und dem Wegfall der kommunistischen Bedrohung hatten zahlreiche Beobachter das Ende der NATO vorausgesagt, die 2019 ihren 70. Geburtstag feierte. Der scheidende US-Präsident Trump hatte des Öfteren die Notwendigkeit des Nordatlantikpakts infrage gestellt. Frankreich forderte eine strategische Unabhängigkeit der EU-Mitgliedsstaaten in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik.

Strategische Unabhängigkeit der EU versus NATO-Reform oder beides?

Dieser Standpunkt stimmt mit einer Forderung des EU-Außenbeauftragten Josep Borell überein, der ebenfalls eine Unabhängigkeit von den Vereinigten Staaten ins Gespräch gebracht hatte. Zur Verwirklichung einer strategischen Unabhängigkeit einigten sich die EU-Verteidigungsminister darauf, hierzu einen Strategiekompass zu entwickeln. Gleichzeitig setzt Deutschland bzw. Bundesaußenminister Heiko Maas auf eine Veränderung der NATO in ihrer jetzigen Form und beauftragte eine Expertenkommission, bestehend aus Akademikern und Diplomaten aus zehn NATO-Staaten, Vorschläge für eine Reform der NATO zu erstellen.

Die beauftragte Kommission legte einen Entwurf mit 138 Empfehlungen mit dem Titel „NATO 2030“ zur Reform der NATO vor, der bei der Außenministerkonferenz der EU-Mitgliedsstaaten präsentiert wurde. In dem 67 Seiten umfassenden Vorschlagskatalog drücken die Experten ihre Beunruhigung um den inneren Zusammenhalt der NATO aus, wobei auch auf Spannungen und unterschiedliche Standpunkte der Mitgliedsstaaten hingewiesen wird. Eine Empfehlung beinhaltet die Unterstützung der NATO „für eine stärkere und leistungsfähigere europäische Verteidigung“ der EU. Insbesondere Großbritannien und die Türkei gelten nicht als Befürworter einer Annäherung zwischen EU und NATO. Die Staats- und Regierungschefs der 30 NATO-Staaten hatten 2019 bei ihrer Abschlusserklärung die Volksrepublik China als „Bedrohung“ und Russland als „Gefahr für die euroatlantische Sicherheit“ tituliert.

Zwei Reformvorschläge bergen aus türkischer Sicht politischen Sprengstoff

Die Konsultationen zwischen der Expertengruppe und den NATO-Staaten dürften sich noch eine Weile hinziehen, da zum einen die Reformvorschläge für alle von großer Bedeutung sind und zum anderen das nächste Gipfeltreffen der Staats- und Regierungschefs auf Mitte 2021 terminiert ist. Für das NATO-Mitglied Türkei sind dabei zwei brisante Vorschläge von großer Tragweite.

Die erste Empfehlung sieht eine Teilnahme von EU-Mitgliedsstaaten, die nicht Mitglied des Nordatlantikpakts sind, an NATO-Mitgliedskonferenzen vor. Die zweite Begutachtung schlägt eine Änderung des bisherigen Einstimmigkeitsprinzips vor. Damit wäre das Vetorecht eines NATO-Mitgliedsstaates ausgehebelt. Beim ersten Vorschlag würden EU-Mitglieder wie der griechische Teil von Zypern, Finnland, Schweden, Malta, Österreich und Irland an NATO-Mitgliedskonferenzen teilnehmen.

Das vorgelegte Dokument hätte für das langjährige NATO-Mitglied Türkei weitreichende Folgen, da Ankara die Republik Zypern als Staat nicht anerkennt und stattdessen die Bezeichnung zyperngriechische Administration verwendet. Gesetzt den Fall, das griechische Südzypern nähme an NATO-Mitgliedskonferenzen teil, käme dies einer Vorbereitung auf die NATO-Mitgliedschaft gleich.

Die Türkei besitzt bei Entscheidungen zum Nordatlantikpakt wie jedes andere NATO-Mitgliedsland ein Vetorecht. Eine Zustimmung käme einer Aufgabe ihrer Rechte und strategischen Interessen im östlichen Mittelmeer gleich und damit einer Verschiebung von Interessen zugunsten von Südzypern. Auch vor dem Hintergrund der seit Jahrzehnten ungelösten Zypernfrage und des Status Ankaras als Garantiemacht auf der Insel wäre eine Annäherung des griechischen Teils von Zypern an die NATO nicht im Interesse der Türkei. Es ist schwer vorstellbar, dass die zyperngriechische Administration, die international als Republik Zypern anerkannt ist, an NATO-Konferenzen neben der Türkei am gleichen Tisch Platz nimmt.

Der zweite Vorschlag ist von vitalem Interesse für die Türkei, da mit diesem Schritt das Veto-Recht eines NATO-Mitgliedsstaates außer Kraft gesetzt würde. Derzeit kann selbst ein kleines Land wie Luxemburg durch sein Vetorecht Entscheidungen der Allianz blockieren, wenn es eigene Interessen gefährdet sieht. Weder der erstgenannte Vorschlag, nach dem EU-Mitglieder, die nicht in der NATO sind, an Konferenzen des Nordatlantikpakts teilnehmen sollen, noch der zweite bezüglich einer Abschaffung des Vetorechts, ist mit den Interessen der Türkei vereinbar, da es mit den USA und den westlichen Verbündeten aktuell Streit um Syrien, in Zypern, im östlichen Mittelmeer und mit Griechenland in der Ägäis gibt.

Vergangene Woche kündigten die Vereinigten Staaten wegen des Erwerbs russischer S-400 Flugabwehrraketen Sanktionen gegen das Direktorat der türkischen Verteidigungsindustrie (Savunma Sanayii Başkanlığı) an. Die CAATSA-Strafmaßnahmen waren ursprünglich gegen Staaten wie Russland, Iran und Nordkorea verabschiedet worden, um bestehende Sanktionen noch einmal zu verschärfen.

Mit dieser Entscheidung verabschiedeten die USA zum ersten Mal Sanktionen gegen einen NATO-Verbündeten, was einen Widerspruch in sich darstellt und die Türkei auf eine Stufe mit Staaten wie Iran oder Nordkorea setzt. Bezüglich der Reformen des nordatlantischen Bündnisses ist der NATO-Generalsekretär gefordert, weil dieser die Interessen sämtlicher NATO-Staaten zu vertreten hat. Aus unterschiedlichen Gründen hatte die Türkei 2017 eine Annäherung Österreichs an die NATO mit ihrem Veto blockiert. In einem anderen Fall hatte Ungarn 2019 eine Annäherung der Ukraine an das Nordatlantikbündnis blockiert. Es wird sich zeigen, ob die türkische Regierung hinsichtlich der erwähnten zwei Empfehlungen von ihrem Einspruchsrecht Gebrauch machen wird.

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