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Die Lage der Flüchtlinge auf den griechischen Inseln nimmt immer mehr groteske Züge an. Die größtenteils katastrophalen Bedingungen in den Notunterkünften sind nicht mehr erträglich. Die EU tut zu wenig.

In Griechenland befinden sich gegenwärtig 120.000 Geflüchtete. Die Lage der Asylsuchenden auf den griechischen Inseln nimmt immer mehr groteske Züge an. In den ägäischen Flüchtlingscamps sitzen derzeit etwa 45.000 Menschen unter katastrophalen Bedingungen fest. Die Kapazitäten der Lager reichen allerdings nur für rund 7.000 Menschen in Not. Diese Leute haben weder eine Aussicht auf ein faires Asylverfahren noch können sie auf Schutz und eine sichere Perspektive hoffen. Besonders hart trifft es die Kinder, von denen einige unbegleitet sind.

Kinder leiden besonders schwer

Nach Schätzungen leben derzeit über 14.000 Flüchtlingskinder in Griechenland, davon etwa 5.000 auf den ostägäischen Inseln. Wie das Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen (UNHCR) berichtet, beläuft sich die Zahl der Kinder, die ohne Eltern oder Verwandte auf den griechischen Inseln gestrandet sind, auf 1.950. Die EU-Kommission spricht dagegen von ungefähr 1.500 unbegleiteten Minderjährigen. Sie sind schutzbedürftig, teilweise krank und leben in elenden Zuständen. Die minderjährigen Kinder stammen vor allem aus Regionen, in denen seit Jahren brutaler Bürgerkrieg herrscht. Syrien, Afghanistan und Pakistan bilden dabei die Spitze. Zudem kommen noch Geflüchtete aus afrikanischen Ländern wie Eritrea, Nigeria, Südsudan und Somalia hinzu.

Eine Perspektive für junge Menschen

Endlich haben sich auch Vertreter der Europäischen Union (EU) dazu durchgerungen, zumindest den Flüchtlingskindern eine Perspektive zu bieten. Was hier mit Perspektive gemeint ist, mag für uns zwar alltäglich klingen, für die jungen Menschen ist es dennoch ein Luxus: sauberes, fließendes Wasser, eine funktionierende Stromversorgung, ein eigenes Bett, oder einfach eine angemessene medizinische Versorgung. Ein faires und rechtmäßiges Asylverfahren mit einem positiven Ausgang gilt schließlich als Krönung des Ganzen.

Reicht die Kapazität der EU nur für 1.600 Minderjährige?

Nach Aussage der EU-Innenkommissarin Ylva Johansson haben sich im März dieses Jahres etwa zehn EU-Mitglieder bereit erklärt, gemeinsam rund 1.600 unbegleitete, minderjährige Flüchtlinge aus den dichtgedrängten Lagern auf den griechischen Ägäis-Inseln bei sich unterzubringen. Die an der Aktion beteiligten Mitgliedsstaaten wollten damit signalisieren, dass sie das durch die Flüchtlingsströme arg in Bedrängnis geratene Land nicht alleine lassen. Zu den Ländern, die einer Aufnahme der Kinder und Jugendlichen zustimmten, zählen neben Deutschland auch Bulgarien, Frankreich, Finnland, Kroatien, Irland, Litauen, Luxemburg und Portugal dazu. Die Bundesrepublik wollte etwa 350 schutzsuchenden Kindern Unterschlupf bieten. Nach und nach gelangen die Kinder und Jugendlichen in die Zielländer. Flugzeuge bringen sie hierher. Die Corona-Pandemie erschwert einen reibungslosen Ablauf. Ist es aber für eine Staatengemeinschaft mit rund 500 Millionen Einwohnern nicht mehr als beschämend, sich nach mehreren Beratungsrunden lediglich für eine Aufnahme von nur 1.600(!) Geflüchteten geeinigt zu haben und dies als einen wichtigen „humanitären Schritt” zu preisen? Wie kann es sein, dass sich nur zehn EU-Staaten finden lassen, die Kindern in Not die Hand ausstrecken und die übrigen EU-Mitglieder nur zuschauen? Kann die EU überhaupt noch von einer „gemeinsamen Flüchtlingspolitik” sprechen?

Deutscher Entwicklungsminister: Überfüllte Lager eine Schande für EU”

Es ist gut nachvollziehbar, dass diese unbegleiteten Kinder auf irgendeine Weise weg wollen aus Griechenland. Die größtenteils katastrophalen Bedingungen in den Flüchtlingsunterkünften sind nicht mehr erträglich. Selbst der deutsche Entwicklungsminister Gerd Müller (CSU) bezeichnete die überfüllten Flüchtlingslager in Griechenland als „Schande“ und forderte Unterstützung für dort untergebrachte Menschen: „Ich empfinde es als Schande, welche Zustände mitten in Europa akzeptiert werden.“ Er sei im Lager Moria auf der Insel Lesbos gewesen und habe mit eigenen Augen gesehen, „wie 20.000 Menschen zusammengepfercht in einem Lager leben, das für 3.000 geplant war“. Müller forderte aus diesem Grund menschenwürdige Bedingungen nach UN-Standards für Flüchtlinge in Griechenland.

Von der Überforderung zur Überreaktion

Was sich in den letzten Monaten an der türkisch-griechischen Grenze abgespielt hat, gleicht einer Tragödie und manifestiert sich als ein Armutszeugnis - und zwar nicht nur für das EU-Mitglied Griechenland, das mit der Situation allem Anschein nach mehr als überfordert ist. Wie ist es sonst zu erklären, dass aus den Reihen griechischer Grenzsoldaten auf Flüchtlinge geschossen wurde oder Boote zum Kentern gebracht wurden? Auch ein Kind starb in einem dieser Boote. Es befand sich mit 48 Passagieren auf dem Weg von der türkischen Küste zur griechischen Insel Lesbos. Überdies sollen, laut Ermittlungen der Recherchenetzwerke Forensic Architecture, Lighthouse Reports und Bellingcat, griechische Grenzbeamte einen pakistanischen Flüchtling beim Überquerungsversuch eines Grenzzauns erschossen haben. Darüber hinaus wurden viele weitere Schutzsuchende durch scharfe Munition griechischer Grenztruppen teilweise schwer verletzt. Zudem schlossen sich in Griechenland „Bürgerwehren” und Nationalisten zusammen, die Flüchtlinge jagten und verletzten. Dabei wurden auch europäische Reporter, Journalisten und NGO-Mitarbeiter in Mitleidenschaft gezogen und trugen Verletzungen davon.

Selbst für Rettungsschiffe gestaltet sich die Lage immer schwieriger. Viele EU-Mittelmeeranreiner halten ihre Häfen für Schiffe von Hilfsorganisationen geschlossen. Diese Überreaktionen sind menschenunwürdig und auch völkerrechtlich eine Bankrotterklärung. Sowohl UNHCR als auch das Menschenrechtsbüro der Vereinten Nationen weisen darauf hin, dass die europäischen Staaten mit der Abweisung von im Mittelmeer geretteten Migranten und Flüchtlingen generell gegen das humanitäre Völkerrecht verstoßen. Die Priorität müsste doch darin liegen, Leben zu retten und die Schwächsten zu schützen. Diejenigen, die in blutigen Kriegen ihre eigene Bevölkerung bombardieren lassen, können dies seit Jahren ungestört tun, weil sie niemand daran hindert. Wir schauen nur zu - wie schon damals in den 1990er-Jahren auf dem Balkan. Auf der europäischen Seite des Grenzzauns scheinen wir uns vor dem humanitären Leid in Sicherheit zu wiegen. Doch irgendwann ist es zu spät. Wenn jetzt nicht eingegriffen wird, wenn Diktatoren wie Baschar al-Assad nicht umgehend gestoppt werden, wird uns das Elend einholen und noch gewaltiger treffen.

Als Griechen selbst Schutz suchten

Nicht zuletzt sollte jedes Land Lehren aus der eigenen Geschichte ziehen. Denn wenn man die Geschichte Europas genauer betrachtet, sieht man, dass diese in großen Teilen eine Geschichte der Migration oder Flucht ist. Das trifft nicht nur für Mittel- bzw. das sogenannte Kerneuropa zu, sondern gerade auch für Griechenland. Denn im Zweiten Weltkrieg waren auch Griechen auf der Flucht und fanden Schutz in Syrien und im Nahen Osten. Und: Viele von ihnen waren Bootsflüchtlinge, denen die türkischen Häfen von İzmir und Çeşme offenstanden. Von dort aus ging es für die griechischen Flüchtlinge weiter nach Syrien, Palästina und Ägypten. Über 40.000 Menschen fanden somit Sicherheit vor Verfolgung, Bürgerkrieg, Hunger und Tod.

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