25. Februar 2022, Ukraine, Kiew: Natali Sewriukowa reagiert neben einem Haus, das bei einem Raketenangriff zerstört wurde. (dpa)
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Die derzeit von Russland eingeleitete politische und militärische Eskalation im Konflikt mit der Ukraine wurde schon seit längerer Zeit erwartet. So wurden die sogenannten Republiken Donezk und Luhansk, die bereits 2014 mit Unterstützung Moskaus von Separatisten in der Ostukraine ausgerufen worden waren, von Russland anerkannt.

Mit dieser Entwicklung wurde eine neue Phase des seit 2013/2014 andauernden Russland-Ukraine-Konflikts eingeläutet. Und nicht zum ersten Mal stellen die Entwicklungen die Ukraine vor die Gefahr einer russischen Invasion. Russland hatte bereits als Kriegspartei mit der Annexion der Krim mit der Invasion der Ukraine begonnen schon damals internationales Recht verletzt.

Aus globaler Sicht wäre es naiv zu glauben, die aktuelle Krise in der Ukraine bliebe auf diese Region beschränkt. Dieser Angriff und die zunehmende russische Aggression sind klare Indizien dafür, dass sich die Gleichgewichte in der Welt und auch in der Politik des Westens in vielerlei Hinsicht grundlegend verändert haben.

Der Westen überlässt die Ukraine ihrem Schicksal

Obschon die Ukraine vom Westen Unterstützung und Garantien erwartet, gelingt es dem Westen nicht, angemessen zu reagieren. Selbst die vom Westen bisher verhängten Sanktionen wurden von Russland selbst als kompensierbar eingestuft und haben keinerlei Bedenken ausgelöst. Auch dass US-Präsident Biden für das ukrainische Volk, das konkrete Maßnahmen und Schritte erwartet hatte, nur „beten“ wolle, hat bei der Mehrheit der Bevölkerung große Enttäuschung hervorgerufen. Wie schon im Fall Georgiens zeigen die westlichen Staaten erneut wenig Unterstützung, obwohl mehr versprochen wurde, und lassen ein weiteres Mal ihren Partner im Stich. Was jetzt in der Ukraine und zuvor in Georgien geschah, ist in Zusammenhang mit den jüngsten Entwicklungen in den postsowjetischen Regionen zu sehen. In den letzten 15 Jahren hat Russland seinen Einfluss in den ehemaligen Sowjetstaaten so stark ausgebaut wie nie zuvor. Auf den Krieg mit Georgien 2008 folgte bereits 2013 die Ukraine-Krise und 2020 der Karabach-Krieg, in dem Russland einer der Hauptakteure im Hintergrund war. Ebenso spielte Russland eine direkte Rolle bei der Niederschlagung der Proteste in Belarus. Die politischen Spannungen in Kasachstan zu Beginn des Jahres und die Intervention Russlands können als weitere Episoden der Machtdemonstrationen Russlands im eigenen „Hinterhof“ gewertet werden.

Warum ist Russland so aggressiv geworden?

Für den rasanten Wandel und die Aggressivität der russischen Außenpolitik gibt es verschiedene Gründe. Zwei Sichtweisen stechen dabei besonders hervor. Nach russischer Interpretation ist die Ursache der jüngsten Ereignisse die Bedrohung der Sicherheit Russlands durch ein westliches Bündnis und die NATO, die sich an russischen Grenzen festsetzt. Worum es wohl eher geht, ist, dass Moskau versucht, die Sehnsucht der von Russland drangsalierten Länder nach Modernisierung, Westausrichtung und Integration in Systeme wie die EU oder die NATO zu unterdrücken. Die Vorstellung, dass sich immer mehr Staaten hinter dem „Eisernen Vorhang“ in den Westen integrieren bzw. mit einem transparenteren und faireren System weiterentwickeln wollen und folgerichtig ihre Beziehungen zu Russland grundlegend kappen, stellt für die in Russland bestehende Autokratie eine Bedrohung dar. So gesehen unterbindet die Putin-Administration Fehlentwicklungen im eigenen „Hinterhof“ und eine weitere West-Integration. Sowohl in der Ukraine als auch vorher schon in Georgien ist deutlich zu sehen, dass Russland bereit ist, Länder durch die Instrumentalisierung von Separatisten und der russischen Minderheit auch mit militärischer Gewalt zu bestrafen, wenn wirtschaftliche Maßnahmen nicht den gewünschten Effekt erzielen.

„Wirtschaftlich ein Riese, politisch ein Zwerg und militärisch ein armer Wurm“

Der Westen hingegen verpasst eine historische Chance nach der anderen und verliert damit das Vertrauen seiner Partnerländer. So geht das ambitionierte EU-Projekt der Östlichen Partnerschaft Tag um Tag seinem Niedergang entgegen. Das Versäumnis der Europäischen Union, antirussische und prowestliche Kräfte in Georgien, Weißrussland und der Ukraine zu stützen, belegt die Feststellung des ehemaligen belgischen Außenministers Mark Eyskens, der Europa als einen „wirtschaftlichen Riesen, politischen Zwerg und militärisch gesehen armen Wurm“ bezeichnete. Bei dieser Art von Kritik verweist man im Westen gerne auf die Abhängigkeit Europas vom russischen Erdgas. Dass Europa die eigene grüne Transformation zu erneuerbaren Energien noch nicht vollzogen und sich darüber hinaus von der Atomenergie verabschiedet hat, die ihre Energieabhängigkeit eigentlich reduziert, sind Fehler, die Russland in die Hände spielen. Die Notwendigkeit, dem südlichen Gaskorridor und alternativen Energieversorgern wie Aserbaidschan und Katar mehr Bedeutung beizumessen und konkrete Schritte einzuleiten, hat die EU erst mit der Eskalation der Ukraine-Krise in den letzten Monaten realisiert, also Jahre zu spät. Insbesondere die von Deutschland in den vergangenen Tagen mit Zuspruch der USA angekündigte Aussetzung von Nord-Stream 2 wird Europa wohl mit entsprechender Verzögerung möglicherweise durch US-Flüssiggas kompensieren. Die wenigen Alternativen der EU in der Energiefrage und weiterhin steigende Preise verhindern ein einstimmiges Handeln innerhalb der EU und verschaffen Russland damit Zeit.

Die Zukunft des Friedens ist in Gefahr

Unter diesen Bedingungen ist die gesamte Ostpolitik der EU in Gefahr. Es hat sich gezeigt, wie zerbrechlich das Minsker Format war, und es hat sich zudem bestätigt, dass sich Putin von der Abschreckung des Westens nicht beeindrucken lässt. Es ist nicht mehr von der Hand zu weisen, dass das seit Jahren entwickelte Projekt der Östlichen Partnerschaft immer dann an seine Grenzen stößt, wenn die beteiligten Länder bei ihrem Bemühen, ihre Zusammenarbeit mit der EU zu intensivieren, den russischen Faktor wie schon in Georgien oder jetzt in der Ukraine nicht überwinden können. Der Westen kann seine gemachten Zusagen nicht einhalten und diese kooperationswilligen Länder nicht vor ihrem aggressiven Nachbarn schützen. Trotz Putins harscher Kritik an der Sowjetunion kam in seinen letzten Reden noch einmal seine Sehnsucht nach einer Expansion Russlands hin zu den Grenzen während der kommunistischen Zeit deutlich zum Ausdruck. Dies bedroht nicht nur die Ukraine oder die postsowjetischen Länder, sondern ganz Europa und den Weltfrieden. Jede Minute, die das westliche Bündnis für eine erforderliche Reaktion verliert, beschleunigt den Zerfall der Machtverhältnisse einer nach dem Kalten Krieg entstandenen internationalen Ordnung und wirft Fragen hinsichtlich einer friedlichen Zukunft auf.

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