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Hat der Westen die Ukraine verraten?
Der russische Einmarsch wird mit Sanktionen geahndet, ohne der Ukraine militärische Unterstützung zuzusichern. Die Krisenmechanismen der westlichen Staaten haben in der Ukraine-Krise versagt, weil die Interessen Russlands nicht berücksichtigt wurden.
Hat der Westen die Ukraine verraten?
01.03.2022, Belgien, Brüssel: Wolodymyr Selenskyj, Präsident der Ukraine, ist während einer Plenarsitzung des Europäischen Parlaments über die Invasion in der Ukraine auf einem Fernsehbildschirm zu sehen. / DPA
3. März 2022

Den russischen Angriff auf die Ukraine pfiffen die nachrichtendienstlichen Spatzen der CIA und des MI6 seit Wochen von den Dächern in Langley und London, und die westlichen Medien, allen voran die britisch-amerikanischen, überboten sich im Wettbewerb um die beste Schlagzeile. Die russische Militäroffensive begann zunächst mit einem Paukenschlag: Moskau erkannte zunächst die seit Jahren abtrünnigen Gebiete der Separatisten, die völkerrechtlich zur Ukraine gehören, an, worauf diese prompt Moskau um „militärische Hilfe“ baten. Auf diesen Bruch des Völkerrechts reagierten die verbündeten westlichen Staaten mit einer Reihe von Sanktionen, aber eine militärische Unterstützung der Ukraine blieb bisher aus.

Russlands Paukenschlag mit Ansage

Es war ein abgekartetes Spiel, und dann sollte aus russischer Sicht alles ganz schnell gehen. Die russische Luftwaffe und Artillerie bombardierten ukrainische Militärstellungen im gesamten Land, worauf ein Einmarsch russischer Bodentruppen folgte. Meldungen zufolge steht die russische Armee vor Kiew, und die ukrainische Armee leistet tapfer Widerstand. Derzeit ist nicht abzusehen, wie lange die Ukraine gegen die russische Militärmaschinerie noch Gegenwehr leisten kann.

Drohungen der USA gegen Russland, die eigentlich keine waren

Was hatte die westliche Staatengemeinschaft der Ukraine nicht alles versprochen, wenn eine russische Invasion durchgeführt werden sollte. Moskau wurde für den Fall eines Einmarsches immer wieder gedroht, und die rhetorische Spitzfindigkeit gipfelte in dem Satz von US-Präsident Biden, Russland werde dafür einen „hohen Preis“ bezahlen. Die vermeintlichen Drohungen des Westens haben Putin geradezu ermuntert, ins Nachbarland einzumarschieren, zumal die russische Regierung die Ukraine als Teil Russlands betrachtet und eine unabhängige Ukraine von Moskau als „Marionette des Westens“ angesehen wird.

Was die Ukraine gegen eine russische Aggression am nötigsten gebraucht hätte, wären Waffen gewesen. Von den USA und anderen westlichen Staaten bekam Kiew Munition, Funkgeräte sowie Panzerabwehrraketen. Aber gegen eine moderne, zahlenstarke und kampferprobte russische Armee hätten die ukrainischen Streitkräfte ohne entsprechende Waffen keine Chance. Deutschland wollte der ukrainischen Armee auch helfen, wollte aber gleichzeitig Russland nicht verärgern, denn 55 Prozent seiner Erdgaslieferungen kommen aus Russland. Man wollte in Berlin anderen NATO-Staaten in nichts nachstehen und kündigte die Lieferung von 5.000 Schutzhelmen an. Mit Schutzhelmen kann man bekanntlich nicht schießen!

Wenn es um die Verteidigung von Demokratie, Freiheit und Menschenrechten geht, sind die USA und andere westliche Staaten Meister der selbstgerechten Inszenierung. Überall auf der Welt werden die Regierungen von Ländern ermahnt oder diplomatisch ausgedrückt „tiefe Besorgnis“ über Demokratiedefizite und Menschenrechtsverletzungen zum Ausdruck gebracht. Wenn es jedoch „autoritäre Regime“ oder „Diktaturen“ sind, die im Interesse des Westens kooperieren bzw. im Einklang mit seinen Interessen agieren, wird darüber hinweggesehen.

Wehe aber, wenn dieser Staat, wie zum Beispiel China, divergierende Interessen verfolgt und auf dem besten Wege ist, zur neuen Weltmacht aufzusteigen. Jahrzehntelang konnten westliche Konzerne in China günstig produzieren und ihre Produkte weltweit vermarkten, was sie nach wie vor tun, aber durch eine geschickte Wirtschaftspolitik hat sich die Volksrepublik seit Langem zu einer Exportnation entwickelt. China versteht es, durch eine kluge Investitionspolitik, zum Beispiel durch den Aufbau einer Infrastruktur mit vielen Ländern in Afrika oder anderswo, die wirtschaftlichen Beziehungen zu stärken.

Russland setzt gegen Europa die Energiekarte ein

Die Krisenmechanismen der westlichen Staaten, insbesondere der europäischen Wirtschaftsnationen Deutschland und Frankreich, haben in der Ukraine-Krise auf ganzer Linie versagt, weil sie es nicht verstanden, die sicherheitspolitischen Interessen Russlands in ausreichendem Maße zu berücksichtigen, und sich eher an Washington orientierten, als ihre eigenen Interessen im Blick zu behalten. Russland hat die Energieabhängigkeit Europas ausgenutzt, um einer Ausweitung der NATO bis vor seine Grenzen einen Riegel vorzuschieben. Die russische Invasion der Ukraine wird nicht nur für die Sicherheitsarchitektur in Europa, sondern auch geopolitische Folgen haben, denn der Einmarsch zeigt, dass das bisherige westliche Ordnungssystem nicht mehr funktioniert. Das sicherheitspolitische Versagen wurde mit der russischen Einnahme der Halbinsel Krim 2014 ganz besonders deutlich.

UN-Generalsekretär gibt schlechte Figur ab

Apropos Hilflosigkeit: Wegen des russischen Einmarschs in der Ukraine flehte UN-Generalsekretär Guterres den russischen Präsidenten Putin regelrecht an, seine Truppen aus der Ukraine abzuziehen. Russland ist bekanntlich Vetomacht im UN-Sicherheitsrat, aber auch für Moskau gelten die gleichen Bedingungen wie für andere Staaten, das sollte ein UN-Generalsekretär und erfahrener Politiker wie Guterres wissen.

Westliche Waffenlieferungen an Terrororganisation PKK/YPG, aber nicht an die Ukraine

Washington und andere westliche Staaten sind zur Stelle, wenn es darum geht, einer Terrororganisation wie der PKK/YPG seit Jahren hochmoderne Waffen und Munition nach Syrien zu liefern. Aber einem anerkannten Staat wie der Ukraine, die um ihre Unabhängigkeit und Freiheit gegen die russischen Usurpatoren kämpft, wird dies versagt, was an für sich ein Skandal ist. An diesem Beispiel zeigt sich die Heuchelei der USA und einiger europäischer Staaten, die Terroristen gegen das NATO-Mitglied Türkei unterstützen und Ideale wie Demokratie, Freiheit und Unabhängigkeit, welche die westlichen Demokratien früher einmal ausgezeichnet haben, aus eigennützigen Gründen verraten haben.

Moskau muss Einhalt geboten werden

Denn eine Demokratie kann sich nur entwickeln, wenn entschieden dafür eingetreten wird. Mit anderen Worten: Die Vereinigten Staaten und andere westliche Verbündete hätten die Ukraine mit den erforderlichen Waffenlieferungen versorgen müssen. Die Sanktionsdrohungen haben Moskau buchstäblich dazu eingeladen, gegen die Ukraine eine Militäroperation zu beginnen. Eine andere Frage wäre, warum die westliche Militärallianz der Ukraine eine NATO-Mitgliedschaft in Aussicht gestellt hat, wenn Russland eine NATO-Erweiterung als Bedrohung seiner Interessen einstuft. Wenn Moskau nicht Einhalt geboten wird, könnte auch andere Nachbarstaaten Russlands das gleiche Schicksal wie die Ukraine ereilen.